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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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»Golden Goose« hätte besuchen sollen, von dem der Lotse auf dem Dampfschiff ihm erzählt hatte. Sein letztes Mal lag viele Wochen zurück, in Washington mit Alma, der jungen Witwe eines Unionsleutnants, die in der Wohnung unter ihm lebte.
    Er hatte der zierlichen dunkelhaarigen Frau seit dem Tod ihres Mannes kleine Gefälligkeiten erwiesen, Dinge für sie geschleppt, Besorgungen gemacht, Hausierer und Bettler vertrieben, wenn sie zu aufdringlich wurden und glaubten, die kleine Frau einschüchtern zu können. Irgendwann hatte Alma Tom mehr oder weniger im Türstock geschnappt und in die Laken gezogen. Die junge Witwe war maßlos und verlangte ihm alles ab. Aber Tom hatte es genossen. Als sie danach zusammen im Bett lagen und Tom einzuschlafen drohte, hatte sie ihn rausgeworfen. Und ihn am Tag darauf wieder in ihre Wohnung gezerrt. Tom hatte keinen Widerstand geleistet, und ihr Arrangement hatte bis zum Attentat auf Lincoln angedauert. Danach hatte er andere Sorgen gehabt.
    »Sieh mal! Da vorn!«
    Beckys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Tom wich einem Haselnusszweig aus und blickte auf. Vor ihm mündete der Hohlweg in eine Lichtung, die sich zum Mississippi öffnete. Es roch nach Fisch und faulendem Seetang. Waschbären raschelten im Unterholz und flüchteten, als sie die heranpreschenden Hufe der Pferde hörten.
    Sie waren in Marion City.
    In dem, was von Marion City noch übrig war.
    Das meiste war von Schlamm bedeckt, aus dem neues Grün wuchs. Dennoch war der Grundriss von Häusern und Straßen auf dem Marschland auszumachen. Steinerne Pfeiler und Grundmauern ragten aus dem Schlick, junge Buchen und Haselsträucher wuchsen zwischen morschen Holzbalken in die Höhe. Deutlich konnte man noch die Kanäle und die Drainagegruben, die Marion City einst vor der Überflutung retten sollten, als Mulden im flachen Land ausmachen. Krähen pickten am Fuß von rostigen gusseisernen Säulen, die einmal Vordächer getragen hatten, und Biber hatten ihren Bau zwischen kniehohen Ziegelmauern errichtet. Alles war überzogen mit Seetang und Moos, und ein Hauch von Tod und Verwesung lag in der Luft.
    Kein Windhauch regte sich, dennoch bekam Tom eine Gänsehaut.
    Von hier kam er her.
    Hier hatten seine Eltern gelebt, und hier war seine Mutter gestorben.
    »Da drüben. Das muss es sein.«
    Tom zuckte zusammen, als Beckys Stimme die unheimliche Stille durchschnitt. Er folgte dem Weg, den ihr ausgestreckter Finger wies, und erblickte das seltsamste Haus, das er je gesehen hatte.
    Es war ein Ungetüm.
    Keine hundert Schritt vom Ufer des Mississippi entfernt stand das Stelzenhaus. Wobei die Stelzen nicht aus Holz waren, sondern das freistehende Portal und die vier verbliebenen Eckpfeiler eines Postamtes, einer Bank oder sonst eines Gebäudes, das einst aus rotem Sandstein für die Ewigkeit hatte errichtet werden sollen und das doch niemals fertiggestellt worden war. Auf die Eckpfeiler und das Portal, an deren Schlammkruste man noch den Wasserstand der letzten Überschwemmung ablesen konnte, hatte jemand Balken gelegt und darüber das Haus errichtet, zusammengefügt aus allem, was in der zerfallenden Stadt zu finden gewesen war.
    Es mutete an wie ein verkrüppelter Bastard, den zehn oder hundert Häuser zusammen gezeugt hatten. Die Vorderseite zum Waldrand hin war aus unterschiedlichsten Türen, Toren und Luken zusammengenagelt. Tom erkannte Zaunlatten, Ladenschilder und eine Schultafel, die man an der Südseite verbaut hatte. Auch Fenster hatte das Gebäude, keines wie das andere; sogar eine bunte Bleiglasscheibe war neben dem Eingang zu sehen. Das Dach schien aus Tausenden unterschiedlichen Blechstücken, Eimern, Waschbrettern und hauptsächlich aus Blechtellern zu bestehen. Eine windschiefe Treppe führte vom schlammbraunen Boden neben dem Portal hinauf, und zwischen den Stufen, den Balken, die sie stützten, und den Pfeilern des alten Gebäudes waren unzählige Schnüre, Netze und Krebsreusen zum Trocknen und Flicken gespannt.
    Ein Mann mit einem Schurz über dem nackten Oberkörper stand zwischen den Stelzen im Schatten und nahm auf einem groben breiten Tisch, dessen Platte aus einer Haustür bestand, Fische aus.
    Als Tom und Becky vom Pferd stiegen und näher kamen, blickte er auf. Der Mann wirkte wie einer der Welse, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Er hatte einen flachen Kopf und eine Stirnglatze, die von einem blonden Haarkranz eingerahmt war. Die kleinen Knopfaugen standen seltsam weit auseinander, und über dem breiten Mund

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