Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Schaukelstuhl stehen geblieben waren. Carl lächelte. »Ja. Es wird bald Regen geben, siehst du?«
Er zeigte durchs Fenster zum Illinois-Ufer, wo dunkle Wolkenberge sich auftürmten.
Debbie wandte den Kopf ganz langsam zum Fenster. »Ja. Regen«, antwortete sie.
Carl fasste sie am Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie Tom und Becky ansehen musste. »Dein Besuch«, sagte er. »Die Lady und der Gentleman kommen aus St. Petersburg. Von einer Zeitung. Wollen mit dir reden. Über damals, als du weg warst.«
Tom und Becky nickten ihr freundlich zu. In Debbies Augen flackerte etwas auf. Tom wusste nicht, ob es Angst war oder Wut oder schlicht der Versuch, das Gehörte zu verarbeiten. Sie sagte nichts, blickte zu Boden, wandte sich zum Fenster und nahm die Arbeit an dem Strohpüppchen wieder auf.
Carl machte einen Schritt zurück und beugte sich zu Tom. Er sprach leise. »Sie war früher ganz anders. Fröhlich und so. Bis sie weg war. Als man sie mir zurückgebracht hat, hat sie gar nicht gesprochen. Seit ’nem halben Jahr spricht sie wieder was. Nicht viel. Nie über damals. Und wenn, dann nur wirres Zeug, was kein Mensch kapiert. Ich muss zu den Fischen.«
Er klopfte Tom auf die Schulter, warf Becky ein »Ma’am« zu und verließ das Haus. Sie hörten, wie die Stufen ächzten, als er nach unten ging und die Arbeit wiederaufnahm. Der Wind frischte auf, Tom konnte es an den Baumwipfeln sehen, die am Mississippi-Ufer unter dunklen Wolken standen. Ein Luftzug kroch durch die Ritzen ins Haus und brachte Bewegung in die Fläschchen und Scherben, die an den Schnüren hingen. Ein helles Klimpern und Klingen erfüllte den Raum und unterstrich die Stille, die hier herrschte.
Tom zog Becky einen Stuhl heran, trat ans Fenster und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Mein Name ist Tom Sawyer, Ma’am. Und die Dame hier ist Becky Thatcher vom St. Petersburg Chronicle . Wir würden gern mit Ihnen über Ihr Verschwinden vor fast zwei Jahren reden.«
Debbie Chisholm schwieg, ihre Hände wickelten weiter Bastfäden um das Püppchen. Sie musste ein paar Jahre jünger sein als Tom, doch sie wirkte wie eine alte Frau. Er blickte fragend zu Becky. Die zuckte mit den Schultern, und Tom wandte sich wieder zu Debbie.
»In einem Artikel im St. Petersburg Chronicle hieß es, Indianer hätten Sie im Wald auf der Straße nach Palmyra gefunden und dann in die Stadt gebracht. Stimmt das?«
Debbie zog einen weiteren Bastfaden aus einem Büschel. Kräftig, fast grob packte sie zu, verschnürte die Figur. Es schien, als würde sie ihre Besucher gar nicht wahrnehmen.
Tom rutschte langsam an der Fensterscheibe nach unten in die Hocke, damit er ihre Augen sehen konnte und vielleicht so ihren Blick auffing. »Ma’am? Ich habe Sie etwas gefragt.«
Falls sie ihn gehört hatte, verriet ihre Miene es jedenfalls nicht. Sie hob das Püppchen kurz hoch, betrachtete es prüfend und zupfte an den langen Basthaaren herum. Tom griff langsam nach dem Püppchen und hielt sanft ihre Hände fest. Die Frau blickte erschrocken auf.
Tom sprach leise zu ihr. »Ma’am. Wir wollen Sie nicht belästigen. Aber vielleicht können Sie uns ja doch etwas über Ihr Verschwinden sagen. Wo waren Sie in den zwei Monaten? Wer hat Sie entführt? Was hat er mit Ihnen gemacht? Wie sind Sie entkommen? Wie kamen Sie auf die Straße nach Palmyra, wo man Sie gefunden hat?«
Debbie starrte Tom an, dann presste sie die Lippen aufeinander, sodass ihre Kiefermuskeln hervortraten. Ihr Kinn zitterte.
Tom erschrak, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Er lockerte den Griff, und langsam, als bereite es ihr große Mühe und Pein, entzog sie ihm ihre Hände. Ihr Blick fiel auf das Püppchen, und sofort entspannte sie sich und nahm ihre Arbeit wieder auf. Tom blickte zu Becky, seufzte und ließ die Hände auf die Oberschenkel sinken.
Becky rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn und deutete auf das Püppchen in Debbies Händen. »Die sind hübsch. Sehr hübsch sogar.«
Debbies Mundwinkel hoben sich leicht, wie zur Andeutung eines Lächelns. Sie schwieg. Becky blickte zu Tom, und der nickte ihr aufmunternd zu. Sie schob sich eine Locke, die ihr ins Gesicht hing, hinter das Ohr. »Machen Sie die für Kinder? Für Ihre Kinder vielleicht?«
Debbie hielt inne, hob den Kopf und blickte zu Becky. Sie blinzelte, musterte Becky eingehend, dann legte sie die Hand auf Beckys Rock und fuhr über den Stoff. »Schönes Kleid.« Ihre Stimme klang dünn und traurig.
»Ja. Es ist schön, nicht
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