Der Mann, der sein Leben vergaß
beizubehalten.
Chefkommissar Antonio de Selvano lehnte sich in den dicken Polstern bequem zurecht und steckte sich eine Zigarette an.
Er hatte Zeit – die Gelegenheit zum Handeln würde sich erst im Privathafen ergeben.
Durch die am Hafeneingang patrouillierenden Polizei- und Zollboote war er von der Ankunft der Jacht Anita aus Amsterdam unterrichtet worden und hatte seine ›Spürnase‹ Primo Calbez in den Hafen gehetzt. Er selbst bezog Posten am Ausgang Lissabons an der ›Bäderstraße‹, da er richtig kombinierte, daß ein Mitglied der ›Familie Destilliano‹ in den Privathafen fahren mußte.
Selvano hatte mit Professor Destilliano selbst gerechnet. Als er Anita mit ihrem Zweisitzer an sich vorbeirasen sah, hatte er zunächst nur den Kopf geschüttelt und keine Erklärung gefunden. Doch er folgte ihr.
Anitas Augen zuckten. Vor ihrem Blick begann die Straße im Licht der Scheinwerfer zu flimmern und zu schwanken. Fest preßte sie die Lippen aufeinander und klammerte sich an das Steuerrad.
Das Kokain! Wenn sie jetzt nur eine Tablette davon hätte! Sie spürte, wie die Spannkraft ihres Körper nachließ, wie sie zusammenfiel, wie eine träge Müdigkeit in ihre Glieder kroch. Jetzt zwei Pervitin, dachte sie, zwei dieser kleinen, weißen Pillen – und das Leben wäre wieder herrlich, der Körper frisch, und die Augen leuchteten. Wie herrlich doch dieses Gift ist, wie weit und frei die Welt wird, wenn die Seele sich erhebt. Zwei Pillen nur, und das Blut jagt durch die Adern, der Kopf wird klar, der Druck der Hände fester. Einmalig ist dieses Gift, einmalig … einmalig … einmalig.
Sie hatte Sehnsucht nach dem Gift.
Sie dürstete nach den kleinen weißen Pillen.
Nach einem Häufchen weißen Staubes.
Kokain!
Ob Fernando auf der Yacht noch einige liegen hat? Vielleicht im Verbandskasten?!
Sie lachte. Ein ganzes Schiff voll Gift und doch unerreichbar. Das Leben ist nur ein Gaukelspiel. Um Gift tötete sie den Onkel … und nun hat sie Sehnsucht nach diesem Pulver und wollte doch nur Fernando warnen – vor dem Gift! Wahnsinn!
Wie sage ich es nur Fernando, grübelte Anita. Wie sage ich ihm, daß er nicht Dr. Albez ist, sondern Pieter van Brouken? Ich kann ihm doch nicht sagen, daß er sein Leben vergaß, daß er irr ist und fremdes Leben, das Leben eines Toten, im Unterbewußtsein weiterlebt. Er wird mich auslachen, er, Dr. Fernando Albez, denn Pieter van Brouken ist ja gestorben, in diesem Körper gestorben, der Pieter van Brouken ist, aber die Seele des Dr. Albez aufnahm.
Wie sage ich das bloß Fernando? Er wird mich nicht begreifen. Er wird lachen.
Und dieses Lachen liebe ich so … ach, ich liebe ihn ganz, ob Fernando oder Pieter.
Ich liebe ihn.
Wie die Augen brennen, wie die Straße schwankt. Die Hände am Steuer zittern auch!
Zusammenreißen, Anita, du mußt dich zusammenreißen!
Oh, nur zwei Pillen Pervitin … nur zwei kleine Pillen.
Weiße Pillen.
Herrliches, befreiendes Gift.
Gift.
Der Motor dröhnte. Grell durchschnitten die Scheinwerfer die schwarze, mondlose Nacht. Irgendwo in der Dunkelheit ahnte Anita die Felsen, die den kleinen Hafen in der Privatbucht Professor Destillianos einschlossen.
Langsam rückte nun auch die schwarze, große Limousine näher. Ihre abgeblendeten Scheinwerfer erleuchteten schwach die gerade Straße. Mit gedrosseltem Motor jagte sie ruhig durch die Nacht.
Als Anita den Wagen etwas zurückhielt und das Gas einen Augenblick wegnahm, weil sie in die in die Felsen eingesprengte Nebenstraße zu der kleinen Bucht einbog, warf sie ohne Gedanken einen schnellen Blick zurück auf die Chaussee.
Zwei schwache Lichter näherten sich den Felsen.
Ein Auto!
Ein eisiger, im Moment lähmender Schreck durchzuckte den zarten Körper des Mädchens. Verwirrt nahm sie den Fuß vom Gaspedal und lehnte sich in den Sitz zurück.
Sie wurde verfolgt.
Lebte vielleicht der Onkel noch und versuchte, ihr zuvorzukommen?
Aber er lag doch auf dem Teppich, blutete aus einer großen Wunde über der Stirn und atmete nicht mehr!
Die Polizei?
Krampfhaft unterdrückte Anita einen Aufschrei.
Die Polizei war hinter ihnen her! Fernando war in Gefahr, der unschuldige, ahnungslose Fernando!
Der Gedanke gab ihr plötzlich neue Kraft und einen nie gekannten, verbissenen Mut.
Wir sind verloren – der Onkel, ich … es gibt nun kein Zurück, dachte sie schnell. Aber ihn muß ich retten, er darf nicht in das Zuchthaus oder in die Hölle der Strafkolonie. Ihn kann ich retten – er weiß ja
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