Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
stolperte und hinfiel. Die Vermutung, daß bei ihm eine Störung des vestibulären Systems vorlag, hatte sich nicht bestätigt. Bei näherer Befragung stellte sich heraus, daß er keineswegs an Schwindelanfällen litt, sondern das Opfer zahlreicher, sich ständig verändernder räumlicher Sinnestäuschungen war: Plötzlich schien der Boden weiter entfernt zu sein, dann wieder kam er mit einemmal näher, er neigte, hob und senkte sich, er verhielt sich - um es mit Charles D. s Worten auszudrücken- «wie ein Schiff in schwerer See». Infolgedessen schwankte auch er selbst hin und her, es sei denn, er sah hinab auf seine Füße. Er mußte hinsehen, wenn er die Beschaffenheit des Bodens oder die Haltung seiner Füße überprüfen wollte - sein Gefühl war höchst unbeständig und unzuverlässig geworden -, aber manchmal war sein Gefühl stärker als sein Gesichtssinn, so daß der Boden und seine Füße aussahen, als wogten sie beängstigend auf und ab.
    Wir stellten bald fest, daß er an akuter Rückenmarksschwindsucht (Tabes) und (da auch die Fasern der Hinterstränge in Mitleidenschaft gezogen waren) an einer Art von sensorischem Wahn, an rasch aufeinander folgenden «Eigenwahrnehmungstäuschungen» litt. Das klassische Endstadium von
    Rückenmarksschwindsucht, in dem es zu einer völligen «Blindheit »der Eigenwahrnehmung der Beine kommt, ist vielen bekannt. Gibt es Leser, die diesem Zwischenstadium - räumliche Sinnestäuschungen infolge eines akuten (und reversiblen) tabetischen « Wahns» - schon einmal begegnet sind? Die Geschichte dieses Mannes erinnert mich an eine außergewöhnliche Erfahrung, die ich selbst gemacht habe, als ich mich von einem Ausfall der Eigenwahrnehmung erholte. In ‹Der Tag, an dem mein Bein fortging› habe ich diesen Zustand beschrieben: «Ich war äußerst unsicher auf den Beinen und mußte auf meine Füße hinabsehen. Dadurch wurde mir die Ursache meiner Unsicherheit offenbar: Es lag an meinem Bein - oder besser: diesem Ding, dieser formlosen Kalksäule, die mir als Bein diente, dieser kreidebleichen Vorstellung von einem Bein. Eben noch war diese Säule hundert Meter lang gewesen, gleich darauf schrumpfte sie auf zwei Millimeter zusammen; eben noch hatte ich sie als dick empfunden, und im nächsten Moment war sie dünn wie ein Fädchen; eben war sie in diese Richtung gekrümmt gewesen, jetzt bog sie sich in jene. Sie veränderte sich ständig in Größe und Form, in Haltung und Winkel, und die Veränderungen erfolgten vier- bis fünfmal in der Sekunde. Das Ausmaß der Verwandlungen und Veränderungen war ungeheuer: Zwischen zwei aufeinander folgenden ‹Bildern› hatten sich die Dimensionen manchmal um das Tausendfache verschoben... »
Leblos oder lebendig?
    In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Phantomwahrnehmungen herrscht oft eine gewisse Unentschiedenheit vor: Sollen sie auftreten oder nicht? Sind sie pathologisch oder nicht? Sind sie «real» oder nicht? Während die Literatur zu diesem Thema verwirrend ist, drücken sich die Betroffenen eindeutig aus und schaffen Klarheit, indem sie verschiedene Arten von Phantomwahrnehmungen schildern.
    So erzählte mir beispielsweise ein verständiger Mann, dessen Bein oberhalb des Knies amputiert war, folgendes: «Dieses Ding, dieser Geisterfuß, tut manchmal höllisch weh - und die Zehen biegen sich auf und verkrampfen sich. Am schlimmsten ist es nachts oder wenn ich die Prothese abgeschnallt habe oder wenn ich nur dasitze und nichts tue. Wenn ich die Prothese anlege und ein paar Schritte gehe, verschwindet der Schmerz. Ich kann das Bein dann immer noch genau spüren, aber es ist ein gutes Phantom. Es ist anders - es macht die Prothese lebendig und läßt mich laufen. »
    Es scheint, als sei bei diesem wie auch bei allen anderen Patienten der Gebrauch der Prothese unerläßlich, um ein «schlechtes» (oder passives oder pathologisches) Phantom zu vertreiben, sofern es existiert, und um das «gute» Phantom das heißt die immer noch vorhandene Erinnerung, die Vorstellung von dem Glied - so gut, lebendig und aktiv zu erhalten, wie sie sein soll.
    Nachschrift Viele (aber nicht alle) Patienten mit Phantomen leiden an «Phantomschmerzen» oder Schmerzen im Phantomglied. Manchmal haben diese Empfindungen etwas Bizarres, aber oft handelt es sich um recht « gewöhnliche» Schmerzen, um andauernde Schmerzempfindungen, die schon vor der Amputation in dem betreffenden Glied aufgetreten waren, oder um neue Schmerzen, die vollkommen normal

Weitere Kostenlose Bücher