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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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mit der Durchsicht einer neuen Ausgabe beschäftigt, als er 1984 starb.) Ober diese Integration, diesen Integrator im Gehirn schreibt er: «Es muß ein Zentrum, eine ‹höhere Autorität› im Gehirn geben... Wir könnten sie als ‹Kontrolleur› bezeichnen. Dieser Kontrolleur, diese höhere Autorität muß ständig über das Gleichgewicht oder Ungleichgewicht des Körpers informiert sein. »
    In dem Abschnitt, der sich mit «Reaktionen auf Schräglagen» befaßt, hebt Purdon Martin hervor, wie sehr das Einnehmen einer stabilen, aufrechten Haltung davon abhängt, daß die drei zuvor erwähnten Sinnesorgane einwandfrei zusammen wirken, und merkt an, daß dieses empfindliche Gleichgewicht
    häufig durch die Parkinsonsche Krankheit gestört wird und daß vor allem «der Beitrag des vestibulären Systems gewöhnlich früher verloren geht als der der visuellen Wahrnehmung und der Eigenwahrnehmung». Dieses dreifache Überwachungssystem, schließt er, ist so beschaffen, daß ein Sinn, eine Kontrollinstanz einen Ausfall der anderen kompensieren kann - wenn auch nicht vollständig (denn die Sinne unterscheiden sich ja in ihrer Kapazität, Eindrücke aufzunehmen und weiterzuleiten), so doch wenigstens partiell und in einem Ausmaß, das einen gewissen Nutzen bringt. Die visuellen Reflexe und Überwachungen sind wohl normalerweise am unwichtigsten. Solange die Systeme des Innenohrs und der Eigenwahrnehmung intakt sind, können wir uns mit geschlossenen Augen ohne Schwierigkeiten gerade und aufrecht halten. Wir neigen uns nicht nach einer Seite oder stürzen zu Boden, sobald wir die Augen schließen, aber bei Menschen, die an der Parkinsonschen Krankheit leiden und daher leicht das Gleichgewicht verlieren, kann dies der Fall sein. (Oft sieht man Parkinson Patienten stark nach einer Seite geneigt dasitzen, ohne daß ihnen das bewußt wäre. Sobald man ihnen aber einen Spiegel vorhält, so daß sie ihre Haltung sehen können, setzen sie sich gerade auf.)
    Die Eigenwahrnehmung kann Defekte des Innenohrs in erheblichem Maße ausgleichen. Dies läßt sich bei Patienten beobachten, denen das vestibuläre System operativ entfernt wer den mußte (ein solcher Eingriff ist manchmal erforderlich, um das unerträgliche, lähmende Schwindelgefühl zu beseitigen, das schwere Fälle der Meniere -Krankheit begleitet): Während sie zunächst nicht aufrecht stehen oder auch nur einen einzigen Schritt gehen können, lernen sie nach und nach, ihre Eigenwahrnehmung in ganz erstaunlichem Umfang einzusetzen und zu erweitern. Vor allem lernen sie, sich der Sensoren in den breiten Rückenmuskeln - den größten und beweglichsten Muskeln des Körpers - als eines zusätzlichen Gleichgewichtsorgans zu bedienen. Diese Muskeln wirken wie zwei große, flügelförmige Propriozeptoren. Mit etwas Übung wird diese Art der Wahrnehmung den Patienten zur zweiten Natur, und sie sind imstande, zu stehen und zu gehen - wenn auch nichtperfekt, so doch sicher, ungezwungen und mit Selbstvertrauen.
    Purdon Martin war sehr einfallsreich, wenn es darum ging, Mechanismen und Methoden zu entwickeln, die Schwerbehinderten Parkinson-Patienten eine künstliche Normalität in Gang und Haltung ermöglichen: auf den Boden gemalte Linien, Gegengewichte im Gürtel, laut tickende Schrittmacher, die beim Gehen den Rhythmus vorgaben. Dabei strebte er immer danach, von seinen Patienten zu lernen. Er war ein zutiefst menschlicher Pionier, und mit seinem Verständnis von der Medizin und von Zusammenarbeit in der Therapie wies er vielen den Weg. Für ihn waren Patient und Arzt gleichrangige Partner, die voneinander lernen, einander helfen und gemein sam neue Erkenntnisse und Behandlungsmethoden finden. Allerdings hat er meines Wissens kein Hilfsmittel entwickelt, mit dem sich das Symptom, an dem MacGregor litt - eine Beeinträchtigung der Reflexe des oberen Labyrinthvorhofs und der Neigungsreflexe-, korrigieren ließ.
    «Das ist es also», sagte MacGregor. «Die Wasserwaage in meinem Kopf ist zu nichts nütze. Aber wenn ich schon meine Ohren nicht gebrauchen kann, dann wenigstens meine Augen. » Prüfend neigte er den Kopf auf eine Seite. «Es sieht alles genauso aus wie vorher - nichts liegt schief. » Auf seine Bitte hin ließ ich einen großen Spiegel ins Zimmer bringen. «Jetzt sehe ich, daß ich Schräglage habe», sagte er. «Jetzt kann ich mich gerade halten. Vielleicht könnte ich immer... Aber ich kann ja nicht umgeben von Spiegeln leben oder immer einen mit mir herumtragen.

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