Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
gewesen wären, hätte man das Glied nicht amputiert. Nachdem die erste Auflage dieses Buches erschienen war, habe ich viele interessante Briefe von Patienten erhalten, die sich mit diesen Phänomenen befassen. Ein Patient schilderte die Schmerzen, die ihm noch Jahre nach der Amputation ein eingewachsener Zehennagel bereitete, um den man sich vor der Operation nicht «gekümmert» hatte. Es wurden jedoch auch ganz andere Schmerzempfindungen beschrieben, zum Beispiel ein starker Wurzelschmerz im Phantomglied, der nach einem akuten Bandscheibenvorfall auftrat und nach der operativen Entfernung der Bandscheibe und dem Verwachsen der beiden Wirbel wieder verschwand. Solche Symptome sind nicht ungewöhnlich und keineswegs «eingebildet» - ihre Existenz kann neurophysiologisch nachgewiesen werden.
So beschreibt Jonathan Cole, einer meiner ehemaligen Studenten, der sich inzwischen als ein auf die Spinalnerven spezialisierter Neurophysiologe einen Namen gemacht hat, den Fall einer Frau, die an fortwährenden Phantomschmerzen im Bein leidet. Eine Anästhesie des Spinalbandes mit Lidocain bewirkte, daß das Phantomglied für kurze Zeit empfindungslos wurde (ja sogar verschwand); eine elektrische Stimulation der Spinalwurzeln dagegen erzeugte einen scharfen, prickelnden Schmerz im Phantomglied, der sich deutlich von dem zuvor aufgetretenen dumpfen Schmerz unterschied, während eine weiter oben vorgenommene Stimulation des Rückenmarks die Phantomschmerzen linderte (Cole erzählte mir davon in einem Gespräch). Cole hat auch die Ergebnisse ausführlicher elektrophysiologischer Untersuchungen eines Patienten vorgelegt, der vierzehn Jahre lang an einer sensorischen Polyneuropathie litt. Dieser Fall war in mancher Hinsicht dem von Christina, der «körperlosen Frau», sehr ähnlich.
(Proceedings of the Physiological Society, Febr. 1986,S. 51P)
7
Schräglage
Vor nunmehr neun Jahren lernte ich Mr. MacGregor in der neurologischen Klinik von St. Dunstan's kennen, einem Altersheim, in dem ich früher arbeitete. Ich kann mich noch so lebhaft an ihn erinnern, als habe unsere Begegnung erst gestern stattgefunden.
«Was kann ich für Sie tun?» fragte ich ihn, als er mit beängstigender Schräglage in mein Zimmer trat.
«Nichts - eigentlich fehlt mir gar nichts... Aber von anderen höre ich immer wieder, daß ich mich schief halte. ‹Du siehst aus wie der schiefe Turm von Pisa›, sagen sie. ‹Noch ein bißchen mehr, und du fällst um.› »
«Und Sie merken nichts davon?»
«Nein, ich fühle mich großartig. Ich weiß überhaupt nicht, was die meinen. Wie könnte ich mich schief halten, ohne es zu wissen?»
«Ja, das klingt seltsam», erwiderte ich. «Lassen Sie uns einen kleinen Versuch machen: Würden Sie bitte aufstehen und ein paar Schritte gehen - nur von hier bis zur Wand dort drüben und wieder zurück? Ich möchte das mit eigenen Augen sehen, und Sie sollen es sich auch ansehen. Ich werde Sie auf Video aufnehmen. »
«Na gut, Herr Doktor», sagte er und stand nach einigen Anläufen auf. Was für ein rüstiger alter Mann, dachte ich. Dreiundneunzig ist er und sieht aus wie siebzig. Er ist hellwach, kein bißchen senil, und könnte ohne weiteres hundert werden. Und er ist stark wie ein Möbelpacker, auch wenn er die Parkinsonsche Krankheit hat. Er ging auf die Wand zu, mit sicheren, raschen Schritten, aber in einer geradezu unwahrscheinlichen Schräglage von etwa zwanzig Grad. Sein Schwerpunkt war nach links verschoben, und er hielt das Gleichgewicht nur mit knapper Not.
«Na bitte!» sagte er mit zufriedenem Lächeln. «Haben Sie gesehen? Es ist nichts - ich hab mich so gerade gehalten wie nur was. »
«Haben Sie das wirklich, Mr. MacGregor?» fragte ich. «Sehen Sie selbst. »
Ich spulte den Film zurück und spielte ihm die Aufnahme vor. Er war zutiefst bestürzt, als er sich auf dem Bildschirm sah. Seine Augen traten hervor, sein Mund klappte auf, und er murmelte: «Da soll mich doch ... ! » Er hielt inne und fuhr fort: «Sie haben recht, ich gehe tatsächlich ganz schief. Ich sehe es ja ganz deutlich, aber ich merke es nicht. Ich spüre es einfach nicht. »
«So ist es», sagte ich. «Das ist das Problem. »
Wir haben fünf Sinne, die wir leicht identifizieren können und auf die wir uns mit einem gewissen Stolz verlassen. Auf sie gründet sich unser Verständnis der sinnlich faßbaren Welt. Aber es gibt noch andere Sinne - verborgene Sinne, «sechste Sinne» -, die ebenso lebenswichtig, aber praktisch unbekannt
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