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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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sind. Diese Sinne, die unbewußt und automatisch funktionieren, mußten erst entdeckt werden, was praktisch erst in den letzten hundert Jahren geschehen ist. Was man im viktorianischen Zeitalter vage mit «Muskelsinn» umschrieb - das Bewußtsein von der relativen Stellung des Rumpfes und der Gliedmaßen aufgrund von Informationen, die von Rezeptoren an Sehnen und Gelenken weitergegeben werden -, wurde erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts genau definiert und mit dem Begriff «Eigenwahrnehmung» benannt. Und die komplexen Mechanismen und Steuerfunktionen, die uns in die Lage versetzen, unseren Körper auszurichten und im Gleichgewicht zu halten, sind erst in diesem Jahrhundert bestimmt worden und bergen noch immer viele Geheimnisse. Vielleicht werden wir erst in unserem Raumfahrtzeitalter mit seinen paradoxen Möglichkeiten und Gefahren eines Lebens
    ohne Schwerkraft wirklich erkennen, welche Bedeutung das Innenohr, der Labyrinthvorhof und all die anderen verborgenen Rezeptoren und Reflexe haben, die uns eine Körperorientierung ermöglichen. Unter normalen Bedingungen sind wir uns ihrer nicht bewußt.
    Und dennoch kann ihr Fehlen auffällige Wirkungen haben. Wenn unsere unbeachteten verborgenen Sinne Informationen verstümmelt (oder verzerrt) weitergeben, dann ist das Ergebnis das äußerst seltsame und mit Worten kaum beschreibbare Äquivalent zu Blindheit oder Taubheit. Wenn die Eigenwahrnehmung, die Propriozeption, überhaupt nicht mehr funktioniert, wird der Körper sozusagen blind und taub für sich selbst - er hört auf (das lateinische Wort proprius deutet darauf hin), sich selbst zu «besitzen», sich als sich selbst zu begreifen (siehe auch Kapitel 3, «Die körperlose Frau»).
    Der alte Mann versank plötzlich in tiefes Grübeln. Er spitzte den Mund, legte die Stirn in Falten, stand reglos da und dachte angestrengt nach. Er bot einen Anblick, der mir immer wieder nahe geht: der Patient in dem Moment, da er, halb abgestoßen, halb erleichtert, zum ersten mal genau erkennt, was ihm eigentlich fehlt, und gleichzeitig mit großer Klarheit sieht, was unternommen werden muß - der therapeutische Augenblick.«Lassen Sie mich nachdenken, lassen Sie mich nachdenken», murmelte er, mehr an sich selbst gewandt, zog seine buschigen weißen Augenbrauen zusammen und unterstrich jeden Punkt mit seinen kräftigen, knorrigen Händen. «Lassen Sie mich nachdenken. Überlegen Sie mit mir - es muß doch eine Lösung geben! Ich halte mich schief, aber ich merke es nicht, stimmt's? Ich müßte es eigentlich merken, ich müßte es spüren, aber ich spüre es eben nicht. » Er hielt inne. «Ich war früher Tischler», sagte er dann, und sein Gesicht hellte sich auf. «Und wenn ich wissen wollte, ob etwas wirklich waagrecht oder lotrecht war, habe ich eine Wasserwaage genommen. Gibt es im Gehirn auch eine Art Wasserwaage?»
    Ich nickte.
    «Und die kann durch die Parkinsonsche Krankheit ausgeschaltet werden?»
    Wieder nickte ich.
    «Und das ist bei mir passiert?» «Ja. » Ich nickte ein drittes Mal.
    Die Wasserwaage, von der Mr. MacGregor gesprochen hatte, war ein ausgezeichneter Vergleich, eine Metapher für ein wichtiges Kontrollsystem im Gehirn. Teile des Innenohrs funktionieren tatsächlich nach dem physikalischen Prinzip der Wasserwaage: Das vestibuläre System besteht aus halbkreisförmigen Kanälen, die eine Flüssigkeit enthalten. Jede Bewegung dieser Flüssigkeit wird sofort registriert. Aber der Fehler lag eigentlich nicht im vestibulären System, sondern eher in MacGregors Unvermögen, seine Gleichgewichtsorgane in Verbindung mit der Eigenwahrnehmung des Körpers und der visuellen Wahrnehmung der Welt zu gebrauchen. Der einfache Vergleich, den MacGregor gezogen hatte, trifft nicht nur auf das vestibuläre System zu, sondern auch auf die komplexe Integration der drei verborgenen Sinne, in der die Wahrnehmung durch das vestibuläre System, die Eigenwahrnehmung und die visuelle Wahrnehmung zusammenfließen. Eben diese Synthese wird durch die Parkinsonsche Krankheit gestört.
    Die gründlichsten (und brauchbarsten) Untersuchungen dieser Integration - und ihrer Desintegrationen durch die Parkinsonsche Krankheit - hat der verstorbene große Neurologe
    J. Purdon Martin vorgenommen. Die Ergebnisse sind in sei nem Buch ‹The Basal Ganglia and Posture› veröffentlicht. (Die erste Fassung erschien 1967. Das Buch wurde jedoch in den folgenden Jahren ständig neu überarbeitet und erweitert: Purden Martin war gerade

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