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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Leben lang versorgt, verhätschelt und zur Untätigkeit verurteilt war, zu ihrer eigenen und aller anderen Überraschung der Keim einer erstaunlichen künstlerischen Sensibilität schlummerte, der, nachdem er sechzig Jahre lang an seiner Entfaltung gehindert worden war, in seltener Schönheit aufblühte?
Nachschrift
    Wie ich herausfand, war Madeleine J. s Fall keineswegs einzigartig. Innerhalb eines Jahres traf ich auf einen weiteren Patienten (Simon K.), der ebenfalls an einer spastischen Lähmung litt, die mit einer erheblichen Sehbehinderung einherging. Obwohl K. s Hände hinsichtlich ihrer Kraft und ihres Empfindungsvermögens normal entwickelt waren, gebrauchte er sie kaum jemals und war außergewöhnlich ungeschickt, wenn es darum ging, etwas zu handhaben, zu ertasten oder über den Tastsinn zu identifizieren. Jetzt, da uns Madeleine J. s Fall bekannt war, fragten wir uns, ob nicht auch Simon K. eine ähnliche «Entwicklungsagnosie» haben und auf dieselbe Weise «behandelt» werden könnte. Und in der Tat stellten wir bald fest, daß er ebenso große Fortschritte machen konnte wie Madeleine J. Innerhalb eines Jahres war er in jeder Hinsicht sehr geschickt geworden und hatte besondere Freude an einfachen Schreinerarbeiten. Er schnitt Sperrholz und Massivholz zu und machte daraus einfaches Holzspielzeug. Da er kein geborener Künstler wie Madeleine J. war, verspürte er keine Neigung, Skulpturen oder andere Kunstobjekte herzustellen. Und dennoch - nachdem er fünfzig Jahre praktisch ohne Hände gelebt hatte, genoß er es, sie zu gebrauchen.
    Dies ist vielleicht um so bemerkenswerter, als er, im Gegensatz zu der lebhaften und hochbegabten Madeleine J. , ein leicht zurückgebliebener Mann mit einem schlichten Gemüt ist. Man könnte sagen, daß Mrs. J. eine außergewöhnliche Frau ist, eine zweite Helen Keller, ein Mensch, wie es ihn unter Millionen nur einmal gibt. Von Simon K. kann man das nicht behaupten. Und doch stellte sich heraus, daß er zu dieser entscheidenden Leistung - der Aneignung seiner Hände - ebenso in der Lage war wie Madeleine J. Anscheinend spielt Intelligenz als solche in diesem Fall keine Rolle. Das einzig Ausschlaggebende ist der Gebrauch, die Übung. Solche Fälle von Entwicklungsagnosie mögen selten sein. Man stößt jedoch häufig auf Fälle von erworbener Agnosie, die deutlich machen, von welch fundamentaler Bedeutung der regelmäßige Gebrauch der Gliedmaßen ist. So habe ich des öfteren Patienten mit einer schweren sogenannten «Handschuh und Strumpf»-Neuropathie, die durch Diabetes hervorgerufen wird. Wenn diese Neuropathie in ein akutes Stadium tritt, weicht bei den Patienten die vorherrschende Empfindung der Taubheit (das «Handschuh und Strumpf»-Gefühl) einem Gefühl des völligen Nichts, der De -Realisation. Sie fühlen sich manchmal (wie ein Patient es ausdrückte) «wie ein Arm- und Beinamputierter» - ihre Hände und Füße «fehlen» ganz und gar. Manchmal haben sie das Gefühl, als seien ihre Arme und Beine nur noch Stümpfe, an denen «Gips- oder Teigklumpen» irgendwie «festgemacht» seien. In typischen Fällen tritt dieses Gefühl der De- Realisation urplötzlich auf... und die Wiederkehr der Realität erfolgt, wenn es dazu kommt, ebenso unvermittelt. Es gibt jedoch gewissermaßen eine kritische (funktionale und ontologische) Barriere. Es ist äußerst wichtig, daß man solche Patienten dazu bringt, ihre Hände und Füße zu gebrauchen - wenn nötig, muß man sie dazu «überlisten». Dadurch wächst die Wahrscheinlichkeit, daß eine plötzliche Re-Realisation eintritt, ein unvermittelter Sprung zurück in «das Leben» und die subjektive Realität - vorausgesetzt, es besteht noch ein ausreichendes physiologisches Potential. (Wenn die Neuropathie total ist, wenn die distalen Teile der Nerven ganz abgestorben sind, ist eine solche Re-Realisation unmöglich.)
    Für Patienten mit einer schweren, aber nicht totalen Neuropathie ist ein mäßiger Gebrauch der Gliedmaßen buchstäblich lebensnotwendig. Er macht den Unterschied aus zwischen einem «Arm- und Beinamputierten» und einem halbwegs selbständigen Menschen. (Bei übermäßigem Gebrauch der Gliedmaßen kann es allerdings zu einer Ermüdung der begrenzten Nervenfunktionen und einer plötzlichen abermaligen De-Realisation kommen.)
    Ich sollte hinzufügen, daß diese subjektiven Empfindungen eine exakte objektive Entsprechung haben: Man kann in den Muskeln der Hände und Füße eine lokale «elektrische Stille»

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