Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Raserei begleiteten motorischen Psychosen, zu denen es manchmal nach Verabreichung von L-Dopa kommt, und andererseits mit den konfabulatorischen Wahnzuständen im Zusammenhang mit Korsakow-Psychosen (siehe Kapitel 12). Und wie diese ist die Tourettesche Psychose beinahe imstande, vom Menschen ganz und gar Besitz zu ergreifen.
Einen Tag nachdem meine Begegnung mit Ray, meinem er sten Tourette-Patienten, meinen Blick, wie schon gesagt, für diese Krankheit geschärft hatte, sah ich in den Straßen von New York, drei Menschen, die am Touretteschen Syndrom litten. Alle zeigten dieselben charakteristischen Symptome wie Ray, allerdings in ausgeprägterer Form. Es war ein Tag, an dem mein Neurologenauge geradezu seherisch begabt zu sein schien. In schnell vorbeiziehenden Visionen erkannte ich, was es bedeutet, an einer äußerst schweren Form des Touretteschen Syndroms zu leiden, bei der sich Tics und Zuckungen nicht auf Bewegungsabläufe beschränken, sondern auch die Wahrnehmung, die Phantasie, die Leidenschaften, mit einem Wort: die gesamte Persönlichkeit erfassen.
Ray selbst hatte mir gezeigt, was auf der Straße passieren konnte. Aber es reicht nicht, es erzählt zu bekommen - man muß es selbst sehen. Und für die Beobachtung einer Krankheit ist eine Klinik, eine Krankenstation nicht immer der beste Ort – jedenfalls nicht, wenn man einer Störung nachspüren will, die zwar organischen Ursprungs ist, sich jedoch in Impulsen, Imitationen, Verkörperungen, in Reaktionen und Interaktionen äußert, die in einem extremen, ja unglaublichen Maße gesteigert sind. Klinik, Laboratorium, Krankenstation sie alle dienen dazu, das Verhalten in Bahnen zu lenken beziehungsweise ganz zu unterdrücken. Sie eignen sich für eine systematische und wissenschaftliche Neurologie, deren Erkenntnisinstrumente bestimmte festgelegte Tests und Aufgaben sind, nicht aber für eine offene, «naturalistische» Neurologie, denn diese muß den Patienten in der realen Welt sehen, wenn er sich seiner selbst nicht bewußt ist, sich unbeobachtet glaubt und sich spontan jedem Impuls überläßt - und man selbst, der Beobachter, muß dabei wirklich unbeobachtet bleiben. Welcher Ort bietet dafür bessere Gelegenheit als eine - Straße in New York eine anonyme, allen zugängliche Straße
in einer riesigen Stadt -, wo das Opfer übermäßiger impulsiver Störungen die ganze monströse Freiheit oder Sklaverei, die sein Zustand mit sich bringt, ausleben und zur Schau stellen kann!
Diese «Neurologie der Straße» ist bereits früher von angesehenen Neurologen betrieben worden. James Parkinson, der ein ebenso unermüdlicher Spaziergänger in den Straßen Londons war wie vierzig Jahre nach ihm Charles Dickens, erstellte die wissenschaftliche Beschreibung der Krankheit, die seinen Namen trägt, nicht auf Grund seiner Untersuchungen im Sprechzimmer, sondern zog seine Schlußfolgerungen aus den Beobachtungen, die er in den von Menschen wimmelnden Straßen Londons machte. Und tatsächlich kann der Parkinsonismus in einer klinischen Umgebung nicht vollständig erkannt und verstanden werden; man braucht einen offenen Raum mit der Möglichkeit zu komplexen Interaktionen, um den eigentümlichen Charakter dieser Störung völlig erfassen zu können. Wenn man den Parkinsonismus richtig verstehen will, muß man ihn draußen, in der Welt, beobachten, und wenn dies für den Parkinsonismus gilt, um wieviel mehr trifft es dann auch auf das Tourettesche Syndrom zu! Eine außerordentlich treffende Beschreibung der Krankheit von einem ihrer Opfer, einem nachahmenden und komischen Ticqueur, der sich in den Straßen von Paris herumtrieb, ist unter dem Titel «Les confidences d'un Tcqueur» als Einleitung zu Meiges und Feindels großartigem Buch ‹Tics› (1901) erschienen. In Rilkes Roman ‹Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge› findet sich die skizzenhafte Beschreibung eines manieristischen Ticqueurs, den der Dichter ebenfalls in den Straßen von Paris gesehen hatte. Was mir die Augen öffnete, war also nicht so sehr das Ergebnis meiner Untersuchung von Ray, sondern das, was ich tags darauf auf der Straße sah. Und besonders eine Szene war so außergewöhnlich, daß ich mich heute noch so gut an sie erinnere, als hätte ich sie soeben erst gesehen.
Eine grauhaarige Frau in den Sechzigern erregte meine Aufmerksamkeit. Sie stand offenbar im Mittelpunkt eines höchst sonderbaren Auflaufs. Anfangs war mir nicht ganz klar, was da eigentlich vor sich ging und soviel
Weitere Kostenlose Bücher