Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Turbulenz hervorrief.
Hatte sie einen Anfall? Was in aller Welt ließ sie, aber auch wie durch Sympathie oder Ansteckung - alle anderen, an denen sie zähneknirschend und Tics vollführend vorbeikam, in Zuckungen geraten?
Als ich näher kam, sah ich, was da geschah. Sie imitierte die Passanten - wenn «Imitation» hier nicht ein zu blasses, zu passives Wort ist. Vielleicht sollte ich besser sagen, sie karikierte die Leute. Innerhalb einer Sekunde, einer Zehntelsekunde, hatte sie ihre hervorstechendsten Charakterzüge erfaßt und brachte diese zum Ausdruck.
Ich habe zahllose Pantomimen und Parodisten, Clowns und Spaßmacher gesehen, aber keiner von ihnen rief jenes erschrockene Staunen hervor, das mich nun, angesichts dieser unmittelbaren, automatischen und konvulsiven Widerspiegelung sämtlicher Gesichter und Gestalten in ihrer Umgebung überkam. Doch handelte es sich hier nicht lediglich um eine Imitation, so außergewöhnlich dies an sich schon gewesen wäre. Die Frau ahmte nicht nur die Mimik zahlloser Passanten nach, sie machte sie sich auch nicht nur zu eigen, sondern übersteigerte sie ins Lächerliche. Jede Widerspiegelung war auch eine Parodie, eine Verhöhnung, eine Übertreibung auffälliger Gesten und Gesichtsausdrücke, eine Übertreibung, die ihrerseits - infolge ihrer gewaltsam beschleunigten und verzerrten Bewegungen - ebenso krampfhaft wie beabsichtigt wirkte. Durch diese unnatürliche Schnelligkeit wurde aus einem bedächtigen Lächeln eine verzerrte, nur den Bruchteil einer Sekunde währende Grimasse; eine weitausholende Geste verwandelte sich, derart beschleunigt, in eine groteske, konvulsive Bewegung.
In der Zeit, die diese verwirrte alte Frau benötigte, um an einem kurzen Häuserblock entlangzugehen, karikierte sie wie besessen vierzig oder fünfzig Passanten. Es war wie ein Trommelfeuer kaleidoskopischer Imitationen. Sie währten jeweils nur ein oder zwei Sekunden, manche nur winzige Momente, und die ganze verwirrende Szene spielte sich in knapp zwei Minuten ab.
Es gab auch komische Imitationen zweiter und dritter Ordnung, denn die Menschen auf der Straße waren über das Verhalten der Frau erstaunt, erbost oder verwirrt und reagierten mit entsprechender Mimik auf sie. Diese wiederum wurde von der Frau widergespiegelt und weiter verzerrt, was noch mehr Zorn und Entsetzen hervorrief. Diese groteske, unfrei willige Resonanz oder Wechselwirkung, durch die alle in den Sog einer ins Absurde gesteigerten Interaktion gezogen wurden, war die Ursache des Auflaufs, den ich von weitem gesehen hatte. Dadurch, daß sie jedermann sein konnte, hatte diese Frau ihr Ich verloren und war niemand geworden. Diese Frau mit den tausend Gesichtern, Masken, personae - wie erlebte sie diesen Wirbelsturm von Identitäten? Die Antwort kam bald - und nicht eine Sekunde zu spät, denn der aufgestaute Druck sowohl in ihr als auch in den Umstehenden - näherte sich dem Punkt, an dem es zu einer Explosion kommen musste. Plötzlich wandte sich die alte Frau mit einer Geste der Verzweiflung ab und trat in eine Gasse, die von der Hauptstraße fortführte. Dort gab sie, den Eindruck einer Frau erweckend, der sterbensübel ist, all die Gesten, Haltungen, Mienen, Verhaltens weisen, das gesamte Verhaltensrepertoire der letzten vierzig oder fünfzig Passanten von sich. Sie entledigte sich, in einem gewaltigen, pantomimischen Akt des Kotzens, der begierig aufgesaugten Identitäten der letzten fünfzig Passanten, die von ihr Besitz ergriffen hatten. Und wenn das Aufnehmen zwei Minuten gedauert hatte, so war dieses Sichübergeben wie ein einziges Ausatmen: fünfzig Menschen in zehn Sekunden, eine Fünftelsekunde oder weniger für das zeitlich zusammengeschrumpfte Repertoire eines jeden Passanten.
Ich verbrachte später Hunderte von Stunden damit, mit Tourette-Patienten zu sprechen, sie zu beobachten, ihre Schilderungen auf Tonband aufzunehmen und von ihnen zu lernen. Und doch hat mich, glaube ich, nichts so schnell und viel gelehrt, mir Zusammenhänge so eindringlich und überwältigend vor Augen geführt wie diese gespenstischen zwei Minuten auf einer Straße in New York.
In diesem Moment begriff ich, daß sich diese «Super-Tourette-Patienten» infolge einer organischen Anomalie und ohne eigenes Verschulden in einer höchst außergewöhnlichen, ja einzigartigen existentiellen Situation befinden müssen, die
zwar einige Analogien mit der der tobenden «Super-Korsakow-Patienten» aufweist, aber natürlich eine völlig andere
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