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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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beibehalten und ihn so weit wie möglich gedehnt, damit ich das Gegensatzpaar «Ausfälle» und «Überschüsse» einbeziehen konnte. Es liegt jedoch auf der Hand, daß auch ganz andere Begriffe eingeführt werden müssen. Sobald wir uns Phänomenen als solchen zuwenden, so bald wir uns mit der tatsächlichen Qualität von Erfahrungen, Gedanken oder Handlungen befassen, müssen wir Begriffe verwenden, die man eher im Zusammenhang mit einem Gedicht oder einem Gemälde gebrauchen würde. Denn wie ließe sich beispielsweise ein Traum im Rahmen des Begriffs «Funktion» erfassen?
    Uns stehen immer zwei Gedankenwelten zur Verfügung - man kann sie «physisch» und «phänomenologisch» nennen oder sonstwie. Die eine umfaßt Fragen der quantitativen und formalen Struktur, die andere jene Qualitäten, die eine «Welt» konstituieren. Jeder von uns kennt seine eigenen, spezifischen Gedankenwelten, seine eigenen inneren Reisen und Landschaften, und für die meisten Menschen ist ein klares neurologisches «Korrelat» nicht erforderlich. Im allgemeinen können wir die Geschichte eines Menschen erzählen und Abschnitte und Szenen seines Lebens wiedergeben, ohne auf physiologische oder neurologische Erwägungen zurückzugreifen - das wäre zumindest überflüssig, wenn nicht gar absurd und beleidigend. Wir halten uns ja, und dies mit Recht, für frei, zumindest insofern, als wir uns durch äußerst komplexe menschliche und ethische Erwägungen und nicht durch Veränderungen in unseren neuralen Funktionen oder unserem Nervensystem bestimmt glauben. Das trifft gewöhnlich auch zu, aber nicht immer, denn manchmal bricht eine organische Störung ins Leben eines Menschen ein und formt es um, und wenn dies geschieht, erfordert seine Geschichte in der Tat ein physiologisches oder neurologisches Korrelat. Dies trifft natürlich auf alle hier beschriebenen Fälle zu.
    In der ersten Hälfte dieses Buches habe ich Fälle beschrieben, die offensichtlich pathologischer Natur waren – Situationen, in denen ein krasser neurologischer Überschuß oder Verlust vorlag. Solchen Patienten (oder ihren Verwandten) und den behandelnden Ärzten wird früher oder später klar, daß körperlich «irgend etwas nicht stimmt». Ihre innere Welt, ihre Gemütslage mag tatsächlich verändert und umgeformt sein, aber dies, so stellt sich heraus, ist auf eine tiefgreifende (und fast quantitative) Veränderung neuraler Funktionen zurückzuführen. In diesem dritten Teil nun geht es vornehmlich um Erinnerung, veränderte Wahrnehmung, Phantasie, «Traum». Es geschieht nicht oft, daß man diesen Dingen in der Medizin oder Neurologie Beachtung schenkt. Diese «Reisen» - oft mit persönlichen Gefühlen und Bedeutungen durchsetzt und von quälender Intensität - werden, da sie, wie Träume, gewöhnlich als Manifestationen einer unbewußten oder vorbewußten Aktivität (oder, für die mehr mystisch Orientierten, als «spirituelle Erfahrungen») gelten, als psychische und nicht als «medizinische», geschweige denn als «neurologische» Phänomene betrachtet. Es wohnt ihnen ein spezifisch dramatischer, narrativer oder persönlicher «Sinn» inne, und daher werden sie meist nicht als «Symptome» angesehen. Es mag in der Natur dieser Reisen liegen, daß sie nicht einem Arzt, sondern einem Psychoanalytiker oder einem Beichtvater anvertraut, als Psychosen angesehen oder als religiöse Offenbarungen verbreitet werden. Es kommt uns ja zunächst nicht in den Sinn, daß eine Vision «medizinische» Ursachen haben könnte, und wenn eine solche organische Ursache angenommen oder nachgewiesen wird, entsteht leicht der Eindruck, die Vision werde dadurch «entwertet» (obwohl dies natürlich nicht stimmt - Werte und Bewertungen haben mit Ätiologie nichts zu tun).
    Alle Reisen, die ich in diesem Teil beschreibe, haben mehr oder weniger klare organische Ursachen (wenn dies auch an fangs nicht offensichtlich war, sondern sich erst nach eingehenden Untersuchungen herausstellte). Dies soll jedoch ihre psychologische und spirituelle Bedeutung nicht im mindesten schmälern. Wenn sich Gott oder die Schöpfungsordnung Dostojewski in Anfällen offenbarte, warum sollten dann andere organische Zustände nicht auch als «Tor» zum jenseits oder zum Unbekannten dienen können? In gewissem Sinne ist dieser Teil des Buches eine Untersuchung solcher Tore.
    Als Hughlings Jackson 1880 diese «Reisen», «Tore» oder «Traumzustände» beschrieb, die im Verlauf bestimmter Epilepsien auftreten,

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