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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Wortspielen), impulsiv und «oberflächlich» geworden. («Man hat das Gefühl, daß man ihr egal ist», sagte einer ihrer Freunde. «Überhaupt scheint ihr alles egal zu sein. ») Zu nächst glaubte man, sie sei hypomanisch, aber es stellte sich heraus, daß sie einen Gehirntumor hatte. Bei der Öffnung des Schädels stieß man nicht, wie gehofft, auf ein Meningiom, sondern auf ein riesiges Karzinom, das die orbitofrontalen Regionen beider Stirnlappen befallen hatte.
    Als ich sie kennenlernte, machte sie einen munteren, lebhaften Eindruck (die Schwestern bezeichneten sie als «Stimmungskanone»), steckte voller witziger Einfälle und gab oft geistreiche und komische Bemerkungen von sich.
    «Ja, Vater», sagte sie bei einer Gelegenheit zu mir. . Ja, Schwester», hieß es ein anderes Mal.
    «Ja, Doktor», sagte sie wenig später.
    Diese Anreden schienen für sie austauschbar zu sein. «Wer bin ich?» fragte ich sie schließlich etwas ungehalten. «Ich sehe Ihr Gesicht, Ihren Bart», antwortete sie, «und denke an einen griechischorthodoxen Priester. Ich sehe Ihren weißen Kittel und denke an die Krankenschwestern. Ich sehe Ihr Stethoskop und denke an einen Arzt. »
    «Und Sie sehen mich nie als Ganzes?» «Nein, ich sehe Sie nie als Ganzes. »
    «Kennen Sie denn den Unterschied zwischen einem Geistlichen, einer Schwester und einem Doktor?»
    «Ich kenne den Unterschied, aber er bedeutet mir nichts. Geistlicher, Schwester, Doktor - was soll's?»
    Nach diesem Gespräch zog sie mich immer wieder damit auf, daß sie mich mit «Vater-Schwester», «Schwester -Doktor» oder anderen Kombinationen ansprach.
    Die Untersuchung der Unterscheidungsfähigkeit zwischen rechts und links erwies sich bei ihr als seltsam schwierig, weil sie die Begriffe «rechts» und «links» wahllos gebrauchte (ob wohl sie in ihren Reaktionen beides nicht miteinander verwechselte, wie es bei einem Lateraldefekt der Wahrnehmungs- oder Konzentrationsfähigkeit der Fall gewesen wäre). Als ich sie darauf ansprach, sagte sie: «Linksrechts. Rechtslinks. Wozu die Aufregung? Was ist der Unterschied?»
    «Gibt es denn einen Unterschied?» fragte ich.
    «Natürlich», antwortete sie mit der Exaktheit einer Chemikerin. «Man könnte die beiden Begriffe als Gegensatzpaar bezeichnen. Aber für mich hat das keine Bedeutung, für mich besteht zwischen ihnen kein Unterschied. Hände... Ärzte... Schwestern... », fügte sie hinzu, als sie meine Verwirrung bemerkte. «Verstehen Sie nicht? Für mich bedeutet das nichts überhaupt nichts. Nichts bedeutet irgend etwas... wenigstens nicht für mich. »
    «Und... daß nichts etwas bedeutet ... » - ich zögerte, denn ich hatte Angst weiterzusprechen - « ... diese Bedeutungslosigkeit... stört sie Sie? Bedeutet sie Ihnen etwas?»
    «Nein, überhaupt nichts», antwortete sie wie aus der Pistole geschossen mit einem breitem Lächeln und im Tonfall eines Menschen, der einen Witzlandet, ein Wortgefecht für sich entscheidet oder beim Poker gewinnt.
    Versuchte sie, etwas zu leugnen? Wollte sie sich nicht unter kriegen lassen? Handelte es sich um einen «Schutz» vor einem unerträglichen Gefühl? Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Ihre Welt war jeden Gefühls, jeder Bedeutung beraubt. Nichts fühlte sich mehr «wirklich» (oder «unwirklich») an. Für sie war jetzt alles «gleichbedeutend» oder «gleich» - die ganze Welt war reduziert auf eine amüsante Bedeutungslosigkeit.
    Wie auch ihre Familie und ihre Freunde fand ich dies irgend wie erschreckend, aber sie selbst, obwohl sie sich dieses Zustandes bewußt war, kümmerte das nicht; sie legte sogar eine Art komischschrecklicher Nonchalance oder Oberflächlichkeit an den Tag.
    Mrs. B. war, obwohl scharfsinnig und intelligent, in gewisser Weise «entseelt» und als Person nicht anwesend. Ich fühlte mich an William Thompson (und auch an Dr. P.) erinnert. Dies sind die Auswirkungen der von Lurija beschriebenen «Nivellierung», die ich im vorangegangenen Kapitel geschildert habe, ein Phänomen, mit dem ich mich noch einmal im folgenden Kapitel befassen werde.
Nachschrift
    Die bei dieser Patientin erkennbare amüsierte Gleichgültigkeit und «Nivellierung» ist nicht ungewöhnlich. Deutsche Neurologen nennen diese Erscheinung «Witzelsucht». Hughlings Jackson hat sie vor hundert Jahren als eine grundlegende Art nervlicher «Auflösung» erkannt. Sie ist, wie gesagt, nicht ungewöhnlich, im Gegensatz zum Wissen des Kranken um diese Störung, das sich jedoch - und das ist

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