Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
zu überbrücken, auch die Ursache seiner Verdammnis. Wenn er nur, so denkt man, einen Moment lang still sein, wenn er nur mit seinem fortwährenden Geplapper aufhören und die trügerische Oberfläche der Welt der Illusionen hinter sich lassen könnte - dann, ja dann hätte die Wirklichkeit eine Chance, ihn zu erreichen, und etwas Echtes, etwas Tiefes, Wahres und Spürbares könnte Zugang zu seiner Seele erhalten.
In diesem Fall ist nämlich nicht das Gedächtnis das letzte, «existentielle» Opfer dieser Entwicklung (obwohl es bei ihm tatsächlich völlig zerstört ist); er hat nicht nur das Gedächtnis verloren, sondern auch die grundlegende Fähigkeit, etwas zu empfinden. Das meine ich, wenn ich sage, er habe «seine Seele verloren».
Lurija bezeichnet diese Gleichgültigkeit als «Nivellierung» und scheint sie manchmal als die eigentliche Krankheit anzusehen, als letztlichen Zerstörer der Welt und des Ichs. Ich glaube, sie übte eine schreckliche Faszination auf ihn aus und stellte gleichzeitig die größte therapeutische Herausforderung für ihn dar. Immer wieder zog es ihn zu diesem Thema zurück - manchmal im Zusammenhang mit dem Korsakow-Syndrom und dem Gedächtnis, wie in ‹The Neuropsychology of Memory›, noch häufiger aber im Zusammenhang mit Stirnlappen-Syndromen, vor allem in (Human Brain and Psychological Processes›. Dieses Buch enthält mehrere ausführliche Studien zu Fällen, die in ihrer Entwicklung und ihren schrecklichen Auswirkungen mit dem Fall des «Mannes, dessen Welt in Scherben fiel», durchaus vergleichbar sind. Irgendwie sind sie sogar noch tragischer als dieser, denn bei ihnen geht es um Patienten, denen nicht bewußt ist, daß ihnen irgend etwas zugestoßen ist. Es handelt sich um Menschen, die, ohne es zu merken, ihre eigene Realität eingebüßt haben, Patienten, die zwar nicht leiden, die aber dennoch die gottverlassensten von allen sind. Sasetzkij (in ‹The Man with a Shattered World») wird durchgängig als ein Kämpfer beschrieben, der sich seines Zustandes ständig und auf leidenschaftliche Weise bewußt war und sich stets «mit der Verbissenheit eines Verdammten» abmühte, wieder Gewalt über seine gestörten Hirnfunktionen zu erlangen. Aber William ist (wie Lurijas Stirnlappen-Syndrom-Patienten; siehe nächstes Kapitel) so verdammt, daß er nicht einmal weiß, daß er verdammt ist, denn bei ihm ist nicht nur eine oder eine Reihe von Fähigkeiten zerstört, sondern der Kern, das Selbst, die Seele. So gesehen ist William, trotz seiner Munterkeit, weit «verlorener» als Jimmie; man hat nie, oder nur selten, das Gefühl, daß tatsächlich noch eine Person vorhanden ist, während Jimmie offensichtlich über einen wirklichen, moralisch empfindenden Kern verfügt, auch wenn er die meiste Zeit keine Verbindung zu ihm hat. Aber bei Jimmie ist eine Heilung wenigstens möglich. Die Herausforderung, vor die der Therapeut sich gestellt sieht, ließe sich in dem Satz zusammenfassen: «Man muß nur eine Verbindung schaffen. »
All unsere Anstrengungen, bei William diese Verbindung wiederherzustellen, scheitern nicht nur, sondern verstärken
auch den auf ihm lastenden Druck, Geschichten zu erzählen. Aber wenn wir unsere Bemühungen einstellen und ihn sich selbst überlassen, geht er zuweilen hinaus in die Stille des Gartens, der das Heim umgibt und der keinerlei Ansprüche an ihn stellt. Und dort, in dieser Stille, findet er seine eigene innere Ruhe wieder. Die Gegenwart anderer Menschen erregt ihn und treibt ihn zu unablässigem, rasendem Geplapper, einem regelrechten Delirium der Identitätssuche und -Schaffung. Die Gegenwart von Pflanzen jedoch, ein stiller Garten, eine nicht von Menschen geschaffene Ordnung also, die keine gesellschaftlichen oder menschlichen Ansprüche an ihn stellt, führt dazu, daß das Delirium abklingt und er sich entspannt. Ihre ruhige Unabhängigkeit und Vollständigkeit, die nicht auf Menschen angewiesen ist, ermöglicht ihm die seltene Erfahrung eigener Ruhe und Unabhängigkeit, indem sie ihn (unterhalb oder jenseits aller lediglich menschlichen Identitäten und Beziehungen) eine tiefe, wortlose Verbundenheit mit der Natur erleben läßt und ihm damit auch das Gefühl wiedergibt, wirklich zu sein und zur Welt zu gehören.
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Ja, Vater-Schwester
Mrs. B., eine früher in der Forschung tätige Chemikerin, hatte eine rapide Persönlichkeitsveränderung durchgemacht; sie war «komisch» (das heißt albern, mit einer Neigung zu Witzeleien und
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