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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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zuckte die Achseln. »Menschen ändern sich eben. Früher oder später verdirbt das Leben uns allen den Spaß.«
    Zehn Minuten später lag ich in dem engen, dunklen Gästezimmer, sann über ihre Worte nach und dachte an den letzten Besuch bei meinem Vater, der sich mit aller Macht ans Leben geklammert hatte, aber nur mehr ein Schatten des Mannes gewesen war, den ich von Familienfotos kannte. »Ob wir alle so sterben?«, überlegte ich. »Schrittweise?« Das Leben meines Vaters war heute zu Ende gegangen, doch der Sterbeprozess hatte sich über Monate hingezogen. Seit dem Zusammenbruch unserer Ehe war Madeleines Temperament wie weggeblasen; wahrscheinlich war mit jeder neuen Verletzung und Enttäuschung ein Teil von uns gestorben.
    Die winzige Kammer, in der ich jetzt lag, war einmal Dillies und Jamies Zimmer gewesen, und der Geruch versetzte mich zurück in die frühen Jahre ihrer Kindheit. Die kleinen Sterne, die ein jüngerer, hoffnungsvoller Vater dereinst an die Decke geklebt hatte, leuchteten noch immer. Ich starrte an das gestirnte Firmament und dachte an die Zeit, die seitdem vergangen war, an die gefühlten Jahrhunderte, die das Licht dieser Sterne gebraucht hatte, um bis ins Hier und Jetzt zu dringen, in das Gästezimmer meines eigenen Hauses, wo ich einsam wach lag und zusah, wie ihre Strahlkraft langsam verblasste.
    Mir fiel ein, wie entzückt Maddy gewesen war, als ich ihr mein Werk stolz präsentierte und ihr die kleinen Halbmonde und winzigen Raumschiffe zeigte. Und wie wir lachten, als ich ihr erzählte, dass ich ursprünglich berühmte Sternbilder hatte nachstellen wollen, aber schon nach kurzer Zeit das Handtuch geworfen und die Sterne wahllos an die Decke geklebt hatte. »Das da oben sollte eigentlich der Große Wagen werden, aber dann hat es doch nur zu einem klapprigen VW -Bus gereicht.«
    Ich erinnerte mich, wie verzaubert Dillie gewesen war, als wir ein paar Jahre später an einem kalten Winterabend im Dunkeln auf dem Rücken lagen und ehrfürchtig flüsternd auf die winzigen Lichter an der Decke deuteten.
    In mir brodelte ein Geysir der Gefühle. Meine Kehle war mit einem Mal wie zugeschnürt, und wie von selbst legte sich ein feuchter Schleier über meine Augen. So vieles war verloren gegangen, so vieles war für immer dahin. Ich stellte mir den alten Mann vor, den ich erst auf dem Totenbett hatte kennenlernen dürfen, seine trüben Augen, seinen runzligen Eidechsenhals. Und ich dachte an Dillie und Jamie und wie sie ihn bei ihrem letzten Besuch in die Arme geschlossen hatten, in der Gewissheit, dass er nicht mehr lange leben würde.
    Jetzt begann ich laut zu schluchzen, erfüllt von unendlicher Trauer, einem Gefühl der Leere, des Verlusts: entschwundene Kindheit, unwiederbringliche Jahrzehnte; eine Familie, die ich als selbstverständlich betrachtet hatte und von der ich jetzt wusste, dass sie nicht ewig währen konnte. Ich riss mich zusammen und wischte mir mit einem Zipfel die Tränen von den Wangen. Dann schüttelte es mich von Neuem, und wieder weinte ich und drehte das Gesicht zur Wand, als würde ich mich vor mir selber schämen. Und als ich mich endlich beruhigt hatte, hörte ich Maddy im Schlafzimmer schluchzen.
    Am nächsten Morgen nahm ich meine Tochter in die Arme und drückte sie fest, während sie um ihren Großvater weinte. Dillie ließ ihren Gefühlen freien Lauf und nicht nur ihren Gefühlen, wie die Rotzspur am Ärmel ihrer Strickjacke recht eindrucksvoll belegte. Ihr Bruder versuchte den stoischen jungen Mann zu mimen, doch als ich ihn in die Arme schloss, brachen auch bei ihm alle Dämme. Und selbst Maddy wurde schwach, als sie die beiden so dort stehen sah, mitten in der großen Küche, wo sie Krabbeln, Laufen, Sprechen und jetzt auch noch Trauern gelernt hatten. Und während wir uns alle umarmten, kam der Hund angelaufen, sprang an mir hoch, legte die Pfoten um mich und begann mein Bein zu rammeln.
    »Ah, wie aufmerksam von dir, Woody«, sagte ich, während die Kinder sich losmachten. »Du hast genau gespürt, dass Daddy sich jetzt nichts sehnlicher wünscht, als von einem Golden Retriever besprungen zu werden.« Ihre Tränen wichen schallendem Gelächter. »Hast du nicht Lust, mit zur Beerdigung zu kommen und das Gleiche mit Granddads alten Royal-Air-Force-Kameraden zu machen?«
    Hatten die Kinder eben noch um ihren Großvater getrauert, saßen sie jetzt vor dem Fernseher und futterten Cornflakes, und Maddy und ich räumten die Küche auf. Es war merkwürdig, aber das

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