Der Mann, der seine Frau vergaß
anderen, welche Rolle sie zu spielen hatten, während ich noch nicht einmal das Drehbuch kannte. In meiner Jackentasche steckte die amtliche Bescheinigung über den Tod meiner Ehe, die unbedingt zur Post musste. Im Kopf ging ich die Liste sämtlicher Leute durch, die meine Unterschrift bezeugen konnten, aber aus verständlichen Gründen mochte ich keinem meiner Freunde eingestehen, dass ich endgültig und auf der ganzen Linie gescheitert war.
Nach zwei Meilen stand ich vor der Tür der einzigen Person, die ich mit meinem Ansinnen behelligen zu können glaubte. Ich war noch nie hier gewesen, doch dank meiner Arbeit in der Schulverwaltung kannte ich ihre Adresse. Suzanne, die Tanzlehrerin, war sehr erstaunt und leicht beunruhigt, als sie mich erblickte.
»Vaughan! Was willst du denn hier?«
»Entschuldige, ich hätte vorher angerufen – aber mein Handyakku ist leer. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«
»Äh – es ist gerade etwas ungünstig …« Sie warf einen ängstlichen Blick über die Schulter.
»Wer ist denn da?«, drang eine schroffe Männerstimme aus der Wohnung.
»Nur ein Kollege aus der Schule.«
Obwohl Suzanne das Ganze furchtbar peinlich war, konnte ich sie davon überzeugen, dass es höchstens eine Minute dauern würde. Sie scheuchte mich in die Küche, und ich holte die Scheidungspapiere hervor, damit sie meine Unterschrift durch die ihre zeugenschaftlich bestätigen konnte. Als ihr klar wurde, was ich von ihr verlangte, sah sie mich erschrocken an.
»Vaughan«, flüsterte sie, »ich möchte nicht, dass du dich von deiner Frau scheiden lässt, nur weil wir neulich nachts …«
»Nein, ich hätte mich so oder so von ihr scheiden lassen.«
»Brian und ich sind nämlich sehr glücklich miteinander. Ich kann ihn nicht einfach so verlassen, Vaughan – schon gar nicht wegen eines unbedeutenden kleinen Techtelmechtels.«
»Nein, wirklich. Ich brauchte nur jemanden, der meine Unterschrift bestätigt. Und da ich gerade in der Nähe war …«
»Du wirst doch hoffentlich niemandem erzählen, was zwischen uns gewesen ist?« Sie blickte nervös in Richtung Wohnzimmer, wo Brian sich eine Heimwerkersendung ansah. »Ich meine, ich war betrunken, du warst betrunken, und es hatte rein gar nichts zu bedeuten, oder?«
Hastig kritzelte sie ihren Namen hin und setzte ihre Unterschrift darunter. Sie war kaum zu entziffern, aber damit war die Sache besiegelt.
Ich stand vor dem Briefkasten und vergewisserte mich ein letztes Mal, dass der Umschlag ordnungsgemäß verschlossen war und die Marken richtig klebten. Dann, nach einer feierlichen Gedenksekunde, gab ich die Zukunft offiziell der Vergangenheit anheim und steckte den Brief in den Kasten. Statt in mein trostloses Hotelzimmer zurückzukehren, schnappte ich mir eine Gratiszeitung und ging in eine an der Hauptstraße gelegene »Schenke«. Das Pub hatte einen Schildermaler engagiert, der die zahlreichen Attraktionen des Lokals in altenglischer Schrift verewigt hatte. Was bei »Gepflegte Biere« und »Ausgesuchte Speisen« noch recht gut funktionierte, bei »Sky Sports in HD « jedoch nicht ganz so überzeugend wirkte. Obwohl er ohne Ton lief, ließ sich der große Flachbildfernseher nicht zuletzt deswegen nur sehr schwer ignorieren, weil die stummen Sprecher von Sky News sich alle Mühe gaben, die Musik, die aus der Jukebox plärrte, mit möglichst unpassendem Bildmaterial zu unterlegen. Aufnahmen von Überschwemmungen in Bangladesch dienten als innovatives Rockvideo für Lady Gaga. Die Nachwehen eines Bombenanschlags in Afghanistan verliehen der neuesten Powerballade eines Ex- X-Factor -Gewinners zusätzliche Intensität. Das Laufband am unteren Bildrand zeigte Aktienkurse oder die Ergebnisse der Europa League, während ich meine dritte Tüte Schweinekrüstchen leerte und die Folienbeutel zu winzigen Schleifen verknotete. Ein Pärchen betrat Hand in Hand das Pub, und ihre demonstrative öffentliche Zurschaustellung sexueller Leidenschaft widerte mich an.
Ich ging auf die Toilette, stellte mich vor den Spiegel und starrte eine Weile in das zerklüftete Gesicht des Mannes, dessen Leben ich geerbt hatte. »Du Vollidiot!«, brüllte ich mein Spiegelbild an. »Jeder Mensch hat nur ein Leben, und du hast deins gründlich verpfuscht!«
Vielleicht hatte mich der Alkohol ein wenig aggressiv gemacht, trotzdem gab es niemanden, den ich lieber verprügelt hätte als mich selbst. »Du kennst deine eigenen Kinder nicht! Deine Frau hasst dich. Du kannst dir noch
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