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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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nicht mal die Namen anderer Leute merken, du seniles Arschloch …«
    »Wer sind Sie?«, lallte jemand in einer der Kabinen. »Woher wissen Sie so viel über mich?«
    Ich marschierte die Streatham High Road entlang, und nur das Blaulicht eines vorbeifahrenden Streifenwagens erhellte die Nacht. War ich nach ein paar Gläsern früher locker und zu Späßen aufgelegt gewesen, machte mich Alkohol inzwischen vor allem eines: müde. Wird auf einer Ü-40-Party zu viel getrunken, dauert es nicht lange, und jeder will nur noch nach Hause und ins Bett. »Boah, guck mal, der ganze Wodka! Davon hau ich mir jetzt ein Fläschchen rein, und dann geht’s ab … in die Heia.« »Ja, und wenn wir erst mal ein paar Tequila intus haben, machen wir so richtig … schlapp .«
    Ich torkelte den breiten, holprigen Gehsteig entlang, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Papierkorb erschien, und bei dem Versuch, selbigen möglichst weiträumig zu umgehen, wäre ich beinahe mit einem Fahrradständer kollidiert. Schließlich tänzelte ich anmutig und elegant, wie ich glaubte, die Stufen vor dem Hoteleingang hinauf. Doch den Schlüssel zielgenau in das widerspenstige Schloss zu befördern, war komplizierter als gedacht, weshalb ich das Schloss gleich mehrmals verfehlte, ohne zu bemerken, dass der Schlüssel sowieso nicht passte.
    Ich lehnte mich gegen die Tür und stellte fest, dass ich sie bloß hätte aufzustoßen brauchen, als ich mit Erstaunen bemerkte, dass in der Eingangshalle jemand saß. Normalerweise warteten hier die Freier auf die Damen oder die Damen auf ein freies Zimmer, und in meinem trunkenen Taumel konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären, weshalb meine Exfrau Madeleine neuerdings als Prostituierte im Streathamer Hi Klass Hotel ihren Lebensunterhalt verdiente.
    »Maddy? Was willst du denn hier?«
    »Hallo, Vaughan«, sagte sie ruhig.
    Sie machte ein todernstes Gesicht. Mittlerweile war ich dahintergekommen, dass sie zu mir wollte, und ihr unerwarteter Besuch zu dieser nachtschlafenden Zeit machte mir Angst. Sie wirkte übermüdet und hatte rote Augen.
    »Es tut mir leid«, stammelte ich. »Ich hab’s heute abgeschickt. Ich brauchte die Unterschrift eines Zeugen, und da habe ich, also, da habe ich eine Kollegin gefragt, aus der Schule, aber ich bin erst heute dazu gekommen, aber es ist in der Post, Ehrenwort …«
    »Darum geht es nicht. Wir haben die ganze Zeit versucht, dich anzurufen, aber du warst nirgends zu erreichen …«
    »Was? Wieso? Was ist denn los?«
    »Dein Vater. Er ist friedlich eingeschlafen. Ich glaube nicht, dass er gelitten hat. Es tut mir schrecklich leid.«
    Ich konnte regelrecht spüren, wie ich wieder nüchtern wurde, während ich dastand und versuchte, die überraschende, aber nicht sonderlich schockierende Nachricht vom Tod meines Vaters zu verdauen.
    »Aber – das darf nicht wahr sein«, sprudelte es aus mir heraus. »Das darf einfach nicht wahr sein.«
    »Es tut mir wirklich leid, Vaughan«, wiederholte Maddy, doch ich war zu betäubt, um darauf zu reagieren. Ich trauerte um etwas, das ich nie gehabt hatte. Er war gestorben, bevor ich Gelegenheit bekommen hatte, ihn richtig kennenzulernen oder mich an ihn zu erinnern. War das egoistisch von mir, überlegte ich besorgt – hätte ich meinen Vater nicht automatisch von unserer ersten Begegnung an lieben und ihn nun beweinen müssen wie jedes Kind, das einen Elternteil verliert?
    »Oh. Gott. Es ist so traurig …« Einen Augenblick lang standen Maddy und ich uns gegenüber und sahen uns an. Und dann breitete sie die Arme aus, um mich zu trösten, und ich ließ mich nicht zwei Mal bitten. Jetzt war meine Gefühlsverwirrung komplett. Kaum hatte ich meinen Vater kennengelernt, war mir mein einziger noch lebender Elternteil genommen worden. Ich war wütend, weil mein dämliches, kaputtes Hirn mich der Chance beraubt hatte, ihm näherzukommen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass die Frau, die ich längst abgeschrieben hatte, mich umarmte, und es fühlte sich gut und richtig an. Zögernd legte ich die Arme um sie und erwiderte die Berührung. War es falsch, das schön zu finden?
    »Er hätte es so gewollt«, sagte ich mir.

19. KAPITEL
    Es war eine rührende und selbstlose Geste. Dass Maddy imstande war, ihren eigenen Schmerz zurückzustellen, um ihrem einstigen Widersacher in diesem schweren Moment beizustehen, hätte selbst dem hartherzigsten Misanthropen den Glauben an die Menschheit zurückgegeben. Das Einzige, was diese zärtliche Szene

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