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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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die früher an der Tagesordnung gewesen waren, gehörten plötzlich der Vergangenheit an: Es landeten keine Leckereien mehr im Einkaufswagen, und seinen Tee musste sich jeder selber kochen. Wenn sich andere Paare trennten, hatten wir noch vor ein paar Jahren darüber gesprochen, als ginge es um einen Autounfall oder eine schwere Krankheit. Jetzt klang es eher, als würde ein Unschuldiger aus der Haft entlassen.
    Natürlich stand nichts von alledem in meinen Online-Memoiren, wo ich um größtmögliche Objektivität und Ausgewogenheit bemüht war. Jedenfalls hatte ich gelinde Zweifel an meinen Erinnerungen an unsere Ehe; zu der Geschichte, die ich in Gedanken rekonstruiert hatte, wollte das schmähliche Ende einfach nicht passen. Ich konnte mich nämlich auch an eine Maddy erinnern, die meine Gefährtin, meine beste Freundin, meine Seelenverwandte gewesen war. Sah so vielleicht die idealtypische Partnerschaft aus, die sämtliche Eheratgeber propagierten? Oder hatte es in unserem Fall zwangsläufig mit Rosenkrieg und Scheidung enden müssen?
    In den letzten Monaten hatte ich immer wieder über unsere Beziehung nachgedacht, weil ich beim besten Willen nicht dahinterkam, woran sie zerbrochen war. Wie ein Detektiv, der in einem fort über Indizien brütet, um sich einen Reim auf den Tathergang zu machen, hatte ich Stunde um Stunde auf die Landkarte meines Lebens gestarrt und mich gefragt, an welcher Stelle wir falsch abgebogen waren. Da wurde mir blitzartig klar, woran es lag. Ich dachte immer nur an mich. Das war die einzige Geschichte, die ich recherchiert, die einzige Perspektive, die ich eingenommen hatte. War meine Ehe womöglich aus demselben Grund gescheitert wie mein Wikipedia-Projekt? Weil ich mich als Individuum begriffen hatte und nicht als die eine Hälfte eines Paares oder den vierten Teil einer Familie?
    Von dieser Erkenntnis beflügelt, erstellte ich ein neues Dokument, diesmal nur für mich, und überschrieb es: »Die Lebensgeschichte von Madeleine R. Vaughan.« Letzteres löschte ich und ersetzte es durch ihren Mädchennamen. Und dann rief ich mir, in keiner bestimmten Reihenfolge, alles ins Gedächtnis, was ich von ihr wusste. Ich schrieb über ihre Familie, ihre Interessen und, so sachlich wie irgend möglich, über die Männer, mit denen sie vor mir zusammen gewesen war. Ich setzte mich ausführlich mit ihrer Arbeit auseinander, mit ihren Anfängen als professionelle Fotografin und dem völligen Umbruch, den die digitale Revolution für sie bedeutet hatte. Ich beschrieb einige der brillanten Fotomontagen, mit denen sie angefangen hatte, als die Kinder nicht mehr so viel Zeit in Anspruch nahmen. Mir fiel ein, wie aufgeregt sie gewesen war, als die ersten Käufer Interesse zeigten, und mit welch wütender Empörung sie reagierte, wenn ich ihre Arbeit weniger ernst nahm als die meine.
    Ich versuchte, unsere gesamte Beziehung aus ihrem Blickwinkel zu schildern. Erinnerungen, von deren Existenz ich bislang nichts geahnt hatte, sprudelten nur so aus mir heraus: wie wir unser Haus besetzt und anschließend die ganze Nacht kein Auge zugetan hatten, aus Angst, die Polizei könnte das Gebäude stürmen und uns auf die Straße setzen. Ich schrieb über ihre Schwangerschaft und Jamies Geburt – wie sie mir vorher ihre Angst gestanden hatte und dann in Freudentränen ausgebrochen war, als sie das schrumplige, mit Käseschmiere überzogene Baby in den Armen hielt. Ich dachte daran, wie sie sich beim Anruf eines Telefonverkäufers extrem dumm gestellt und auf jede Frage nur »Hä?« in den Hörer gegrunzt hatte, egal wie oft er sie wiederholte. Den Spendensammler in der King’s Road nicht zu vergessen: Als er sie ansprach, spielte sie die Gehörlose und erkundigte sich in wenig überzeugender Gebärdensprache, ob auch er gebärden könne.
    Zwei Stunden waren vergangen, und noch immer flogen meine Finger emsig über die Computertastatur. Kollegen, Putzfrauen und Tageslicht hatten sich längst verdünnisiert, und ich saß einsam in meinem dunklen Klassenzimmer, erhellt allein vom Schein des Monitors. Obwohl ich mit Maddys Analyse meiner Fehler und Schwächen nicht ganz einverstanden war, hielt ich auch sie für die Nachwelt fest. Ich war wild entschlossen, unser Leben aus ihrer Perspektive zu betrachten. Schließlich brachte ich die Geschichte auf den neuesten Stand. Meine Erstfassung von Maddys Monografie endete mit ihrer Trennung von Ralph und der Trauer um ihren Schwiegervater. Als ich über Maddys Reaktion auf den

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