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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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anrufen können, wollte jedoch unbedingt verhindern, dass sie mich einfach ignorierte. Schließlich stieg ich die Vortreppe hinauf und streckte zögernd den Finger nach dem Klingelknopf aus, als würde es nicht ganz so laut schellen, wenn ich nicht ganz so fest drückte. Ich konnte mir zwar nicht recht erklären, weshalb, aber ich war erleichtert, als sich hinter der Tür etwas bewegte. Sie sah durch den Spion und machte dann die Tür auf. Doch zu meiner Enttäuschung stand nicht Maddy vor mir, sondern ihre Mutter. Sie wirkte ängstlich und nervös.
    »Nein, sie ist es nicht!«, rief Jean in Richtung Wohnzimmer. »Es ist Vaughan!« Sie zog mich ins Haus. »Ich wollte dich anrufen, mein Junge – spätestens morgen früh hätte ich dich angerufen. Mein Gott, jetzt sind es schon zwei Tage – wir kommen fast um vor Sorge …«
    »Wieso? Was ist denn los? Wo ist meine Frau?«
    »Sie ist verschwunden, Vaughan. Wie vom Erdboden verschluckt.«

21. KAPITEL
    Erst dachte ich, Maddy könnte dieselbe Bewusstseinsstörung erlitten haben wie ich und just in diesem Moment ziellos durch die Straßen irren, ohne zu wissen, wer sie war oder wohin sie gehörte. Der Gedanke war so abwegig nicht: Dr. Lewington hatte anfangs nicht umsonst auf virale Gehirnentzündung getippt – was, wenn Maddy sich dieses Amnesie-Virus bei ihrem Exgatten eingefangen hatte?
    Ich erinnerte mich noch genau, wie ängstlich und verstört ich gewesen war, als ich mich plötzlich fremd gefühlt hatte im eigenen Körper, und konnte nur hoffen, dass Maddy nicht das Gleiche durchmachte wie ich. Womöglich lag sie in irgendeinem Krankenhaus, um den Arm ein Plastikbändchen mit der Aufschrift »Unbekannte Person weiblichen Geschlechts«; oder sie versuchte, vorbeieilende Passanten anzusprechen, die keine Lust hatten, ihren iPod auszuschalten und stattdessen ihrem Flehen Gehör zu schenken.
    Dann überlegte ich: Falls sie tatsächlich an retrograder Amnesie erkrankt war, würde sich diese dann in derselben Weise äußern wie bei mir? Würde sie sich ein zweites Mal Hals über Kopf in mich verlieben? Wie damals, als sie neunzehn war? Ist das nicht die heimliche Fantasie jedes in die Jahre gekommenen Pärchens – noch einmal dieselbe lichterloh brennende Leidenschaft zu verspüren wie zu Anfang der Beziehung? In der Schlussphase unserer Ehe war es nahezu unmöglich geworden, die letzten Funken dieser Glut vor dem Erlöschen zu bewahren. Nach zwanzig Jahren schaut man dem anderen nur noch in die Augen, um zu sehen, ob er ein schlechtes Gewissen hat.
    Zwar war es durchaus möglich, dass Madeleine eine dissoziative Fugue erlitten hatte, doch je mehr ich über die Umstände ihres Verschwindens erfuhr, desto unwahrscheinlicher erschien es mir. Falls Maddys Gehirn tatsächlich sämtliche Erinnerungen gelöscht hatte, gab es dafür kaum einen geeigneteren Zeitpunkt. Am Samstagmorgen waren beide Kinder mit der Schule in die Skiferien gefahren. Nach zwanzig Jahren hatte sie das Haus zum ersten Mal ganz für sich allein. Oder hätte es vielmehr ganz für sich allein gehabt, wären ihre Eltern nicht auf die glorreiche Idee gekommen, sich eine Woche bei ihr einzuquartieren, um ihr Gesellschaft zu leisten. Maddys mysteriöses Verschwinden stand am Ende einer ungemein harten und aufreibenden Phase ihres Lebens: Ihr Exmann war verschwunden, nur um wenig später wieder aufzutauchen und den Scheidungsantrag zurückzuziehen; sie hatte eine Beziehung mit einem anderen Mann begonnen und sich kurz darauf von ihm getrennt; und sie hatte ihren geliebten Schwiegervater beerdigt.
    Nach alldem auch noch ihre Mutter zu ertragen, die Tag und Nacht um sie herumscharwenzelte, war vermutlich mehr, als man von einem halbwegs normalen Menschen erwarten konnte. »Ich begreife einfach nicht, wie Madeleine einfach so verschwinden kann. Ich begreife es nicht. Begreifst du das, Ron? Siehst du, Ron begreift es auch nicht – es ist ein vollkommenes Martyrium …«
    »Mysterium …«
    »Sag ich doch! Ein vollkommenes Martyrium! Nicht wahr, Ron?«
    »Es heißt › Myste rium‹.«
    »Hab ich doch gesagt. Soll ich bei der Polizei anrufen? Ich rufe am besten bei der Polizei an. Ron, würdest du bei der Polizei anrufen? Die Nummer ist neun, neun, neun, Schatz. Drei Mal die Neun.«
    »Nein – lasst uns damit lieber noch ein Weilchen warten«, gab ich zu bedenken.
    »Wie du willst. Ich hatte die Nummer sowieso schon wieder vergessen«, sagte Ron und zwinkerte mir lächelnd zu.
    »Die Nummer ist neun, neun,
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