Der Mann, der seine Frau vergaß
Drogen zu tun gehabt, aber das stimmt nicht. Möchten Sie ein Bild von ihm sehen?«
Sie holte ein Foto aus ihrem kleinen Plastikportemonnaie, in dem auch ihre Monatskarte und ihr Kantinenausweis steckten. Es war abgegriffen und zerknittert, doch hinter dem angelaufenen Plastik erkannte ich eine winzig kleine Tanika und einen hochgewachsenen Mann, der in die Kamera lächelte.
»Er sieht nett aus.«
»Aber mit Drogen hatte er nichts zu tun.«
»Ich glaube dir ja.«
»Das haben sie nur gesagt, damit sich alle besser fühlen.«
Eine Horde von Siebtklässlern, die auf den Beginn der nächsten Stunde wartete, spähte zur Tür herein, und ich stieß die Tür zu.
»Wie meinst du das?«
»Wenn die Leute ein Foto von einem ermordeten Schwarzen sehen und in der Zeitung steht, es hatte mit Drogen zu tun, denken die ganzen vornehmen Weißen: ›Na und, was soll’s, mir kann so was nicht passieren.‹«
Derart scharfsinnige Analysen hatte ich Tanika gar nicht zugetraut, aber der Tod ihres Vaters beschäftigte sie offensichtlich mehr als der Zusammenbruch der Reichsmark.
»Nun ja, wenn einem mit drei Jahren der Vater wegstirbt, ist das ein sehr viel härterer Schlag, als wenn man seinen Dad in meinem Alter verliert. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was du durchgemacht hast …«
Sie starrte nun nicht mehr zu Boden, sondern sah mich unverwandt an. Aus ihrem Blick sprach weder Trauer noch Rührung. Plötzlich begriff ich, weshalb sie sich den Panzer zugelegt hatte, der sie zur Anführerin der Klasse machte.
»Tanika? Du weißt, dass du in Geschichte noch eine Facharbeit abzuliefern hast?«
»Ja, keine Angst, ich mach das schon.«
»Was hältst du davon, wenn du die Geschichte deines Vaters richtigstellst?«
»Was?«
»Du brauchst nicht über etwas zu schreiben, das Jahrhunderte zurückliegt. Warum sammelst du nicht einfach sämtliche Berichte über den Mord an deinem Dad – in der Presse, im Internet et cetera – und stellst ihnen die wahre Geschichte gegenüber?«
»Im Ernst?«
»Und vergiss nicht, was du vorhin gesagt hast: dass die Fakten bisweilen verfälscht werden, damit sich die Leute besser fühlen. Du hast recht – genau so wird Geschichte umgeschrieben.«
Zugegeben, ich hätte mir diesen riskanten Vorschlag vielleicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen sollen, bevor ich ihn ihr unterbreitete, doch wenn ich nicht bald eine Möglichkeit fand, ihr Interesse und ihr Engagement zu wecken, war es mit ihrer Schulbildung im Handumdrehen vorbei. »Denk darüber nach«, sagte ich, und mit einem ausdruckslosen Nicken steckte sie das Foto wieder ein und wandte sich zum Gehen. Ein elfjähriger Junge presste den offenen Mund gegen die Scheibe in der Tür und atmete ein und aus wie eine riesige menschliche Schnecke.
»Sir, die anderen Lehrer sprühen die Scheiben deshalb immer mit einer voll ekligen Reinigungsflüssigkeit ein. Nur falls Sie’s vergessen haben …«
»Äh, danke, Tanika. Ich werd’s versuchen.«
Nach Schulschluss setzte ich mich an den Computer in meinem Klassenzimmer und wehrte eine massive E-Mail-Invasion ab, in der grimmigen Gewissheit, dass für jede erledigte Nachricht sogleich zwei neue meinen Posteingang stürmten. Tapfer widerstand ich den Sirenenrufen des Internets, doch nach circa anderthalb Minuten richtiger Arbeit erlag ich der Verlockung und warf einen Blick durch das Fenster auf die große weite Welt. Auf der Startseite von Garys nutzergenerierter Newssite fand ich eine interessante Story über die von BP verursachte Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, bei der es sich angeblich um einen Sabotageakt handelte. Dahinter stecke eine rassistische Verschwörung zwischen dem Buckingham-Palast und dem US -amerikanischen militärisch-industriellen Komplex zum Zwecke der Destabilisierung Barack Obamas. Erstaunlicherweise hatte bislang keine der großen Nachrichtenagenturen diese YouNews-Exklusivmeldung übernommen:
Die britische Königsfamilie (Juden) hat ihren BP -Knechten befohlen, die Ölpest zu türken, damit sie die Öldollars als Blutgeld einsacken können, jawohl, und damit keiner erfährt, wie sie Lady Di haben ermorden lassen, weil Obama »schwarzer« Präsident, (Afrika) wie Dodi, wird genau dasselbe Schicksal erleiden wie M. L. King, Malcolm X und Marvin Gaye – allesamt exekutiert, jawohl, von der zionistischen CIA (wahr).
Nun brauchte ich mich nicht mehr ganz so sehr zu grämen, weil ich Gary eine Absage erteilt und mich gegen eine weitere Beteiligung an YouNews
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