Der Mann, der seine Frau vergaß
Fußballspieler …«
»Nein, glaub’s mir, du bist beschissen. Du rennst wie ein Mädchen, und bei deinem letzten Treffer ist der Ball von deinem Arsch ins Tor geprallt.«
Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich unsere philosophische Diskussion langsam, aber sicher von ihrer zentralen These entfernte.
»Was ich sagen wollte, ist Folgendes: Wäre es denkbar, dass mit meinen Erinnerungen auch sämtliche charakterbildenden Erfahrungen meines Lebens verschwunden sind? Als Junge hatte ich einen Fahrradunfall, an den ich mich nicht entsinne. Die Narbe am Bein habe ich noch heute. Aber wie steht es mit den geistigen Narben, die eine gescheiterte Ehe und all die anderen Enttäuschungen und unerfüllten Träume mir geschlagen haben, auch wenn ich mich nicht an sie erinnern kann?«
»Soll ich deinem Gedächtnis ein bisschen auf die Sprünge helfen? Du bist ein beschissener Fußballspieler …«
»Das sagtest du bereits.«
»Du kannst nicht Auto fahren … hast auf der Uni nicht genug Weiber gevögelt … verträgst keinen Alkohol … läufst in den unmöglichsten Klamotten rum …«
»Ja, schon gut, das reicht. Aber meinst du nicht auch, dass mein Fall die unglaubliche Chance bietet, die Frage nach ›Anlage oder Umwelt‹ ein für alle Mal zu klären? Müssen wir uns tatsächlich an etwas erinnern, damit es Spuren bei uns hinterlässt? Nein. Niemand von uns kann sich an sämtliche Kleinigkeiten erinnern, die ihm im Leben widerfahren sind, und doch haben sie unsere Persönlichkeit geprägt.«
»Ja, ja«, sagte Gary und nippte an seinem Bier. »Du und deine philosophischen Ergüsse. Kann ich deine Chips haben?«
Doch selbst ein unsensibler Dickhäuter wie Gary war nicht gänzlich immun gegen das, was um ihn herum passierte. Er hatte das Ultraschallbild seines ungeborenen Kindes als Wallpaper auf seinem iPhone installiert. Selbst wenn er ihm mit Hilfe seiner Lieblingsapp Schnäuzer und Koteletten verpasst hätte, wäre der Fötus schwerlich als ein Pornostar der Siebzigerjahre durchgegangen. Er schien sich allmählich damit abzufinden, dass wir keine radikalinken Studenten mehr waren, die zusammen fahnenschwenkend durch dick und dünn marschierten. Er hatte sogar eine Idee, wer die richtige Frau für mich sein könnte.
»Weißt du, mit wem du mal ausgehen solltest?«
»Nein. Mit wem denn?«
»Maddy!«, verkündete er, als handele es sich um den epochalen Geistesblitz eines veritablen Originalgenies. »Überleg doch mal. Ihr habt wahnsinnig viel gemeinsam – außerdem werde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass du noch immer eine kleine Schwäche für sie hast.«
»Wow! Danke, Gary. Ich werd’s mir merken.«
Insgeheim befürchtete ich, dass mit den Erinnerungen an meine Ehe auch die Bitterkeit und der Zynismus meines früheren Ichs zurückkehren könnten. Inzwischen erinnerte ich mich an verschiedene Phasen unserer Ehe. Wie es schien, war unser Machtkampf eskaliert wie eine regionale Auseinandersetzung. Ich hatte nachdrücklich darauf bestanden, dass das Regal über dem Fernseher die angestammte Heimat meiner Plattensammlung sei, und Maddy aufgefordert, die aggressive Besiedlung der umstrittenen Gebiete durch Duftkerzen und gerahmte Fotos unverzüglich zu beenden.
Madeleine verschärfte die Spannungen in der Region durch das berühmte Massaker vom 10. Juli, bei dem sie auf einen Schlag sämtliche im TV -Planer gespeicherten History-Sendungen löschte. Dabei wurden Dutzende von Nazi-Dokumentationen, die ich mir für stille Stunden aufgehoben hatte, systematisch vernichtet; mit ihrer ethnischen Säuberung der Sky Plus Box machte sie Hitlers Besetzung der Recorder-Festplatte ein grausames Ende.
Die gegenseitige Abneigung wurde so groß, dass wir uns wegen jeder Kleinigkeit in die Haare gerieten. »Nein, die beiden Songs kannst du unmöglich vergleichen!«, hatte ich sie einmal angeschrien. »Was, bitte, hat ›Fernando‹ mit ›Chiquitita‹ zu tun?« Nach jedem Streit herrschte noch tagelang dicke Luft, und wir führten einen verdeckten Zermürbungskrieg, der an mehreren Fronten zugleich ausgetragen wurde. Wenn Maddy den Wagen auftankte, sorgte sie absichtlich dafür, dass der Zähler bei £ 50,01 stehen blieb, weil sie genau wusste, dass mich das auf die Palme brachte. Bei der kritischen Beurteilung von Fernsehkrimis machte sie aus ihrer Sympathie für die geistesgestörte Frau, die ihren Mann heimtückisch ermordet hatte, nur selten einen Hehl. Die kleinen Liebesbeweise und Gefälligkeiten,
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