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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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Tod meines Vaters schrieb, war auch ich zu Tränen gerührt.
    Nach meinem knapp dreistündigen Versuch, die Welt durch Maddys Augen zu betrachten, war mir, als hätte ich auf der Reise durch meinen Kopf überraschend eine dritte Gehirnhälfte entdeckt. Zwar bildete ich mir nicht ein, Maddys Psyche vollständig durchschaut zu haben, aber ein Anfang war gemacht.
    Wir führten alberne Auseinandersetzungen um gar nichts, deren himmelschreiende Absurdität mich in den Wahnsinn trieb. »Was ist denn los?«, fragte ich, wenn Maddy wieder einmal einen ihrer berühmten vielsagenden Seufzer ausstieß.
    »Nichts«, log sie dann.
    »Aber irgendetwas ist doch«, widersprach ich mit der emotionalen Sensibilität von Mr. Spock. »Warum sagst du mir nicht einfach, wenn etwas nicht stimmt?«
    »Weil du das eigentlich selber wissen müsstest.«
    Und ich war entnervt und betrübt, weil aus ihren Worten nicht nur Zorn, sondern auch eine tiefe Enttäuschung darüber sprach, dass sie keinen Zirkuswahrsager mit telepathischen Zauberkräften geheiratet hatte. Doch jetzt glaubte ich zu wissen, was sie mir hatte sagen wollen. »Das müsstest du eigentlich selber wissen« war Maddy-Sprech für: »Hast du schon mal versucht, die Welt durch meine Augen zu betrachten?«
    Nach der Beerdigung hatte sie so still, so nachdenklich und abwesend gewirkt. Gewiss, sie trauerte um ihren Schwiegervater und hatte sich obendrein von Ralph getrennt, aber das war es nicht, was sie beschäftigte: Sie hatte sowohl das herumgereichte Tablett mit Eier-Kresse-Sandwiches als auch die greisen Verwandten ignoriert, die ihr in einem fort versicherten, wie groß die Kinder doch geworden seien. Irgendwann erwischte ich sie allein in der Küche und fragte sie, was los sei.
    »Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich das alles finden soll«, lautete ihre rätselhafte Antwort.
    »Wie du was finden sollst?«
    »Na, alles«, und einen Augenblick lang schien es, als wollte sie den Kopf an meine Schulter lehnen.
    »Und ich weiß nicht, wie ich Anchovis finden soll«, polterte Gary und kam mit einer Büchse Bier in der Hand in die Küche marschiert. »Mal liebe ich sie, mal hasse ich sie.«
    »Dann hättest du vielleicht eine Anchovis heiraten sollen, Gary«, sagte Maddy, und ich lachte, doch sie ging schon wieder hinaus zu den Gästen. Danach wechselten wir kaum noch ein Wort, und auch als sie schließlich ging, besprachen wir nur rasch ein paar organisatorische Kleinigkeiten. Ich gab den Kindern etwas Geld für die Skiferien und bot Maddy an, am Wochenende den Hund Gassi zu führen. Ich wollte ihr Berater und Vertrauter sein, stattdessen sah ich ihr nach, als sie davonfuhr, und musste mir das Geschwafel eines baskenbemützten alten Mannes anhören, der mir ungefragt mitteilte, er sei zusammen mit meinem Vater in Northolt stationiert gewesen.
    »Ah ja«, sagte ich. »Er hat immer in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.«
    »Ach wirklich?« Der alte Mann wirkte angenehm überrascht. »Oh – das freut mich.«
    Als ich so allein in meinem Klassenzimmer saß, machte ich mir plötzlich Sorgen wegen Maddy. Möglicherweise besaß ich ein Gespür, über das außer mir niemand verfügte: eine Art instinktive Empathie, die ich im Lauf von fünfzehn Ehejahren erworben hatte; ein Programm, das sich so leicht offenbar nicht löschen ließ. Ich warf einen Blick auf die Zeitanzeige in der Ecke meines Monitors und stellte fest, dass es schon zu spät war, um bei ihr vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen. Ich hätte sie am Wochenende anrufen sollen, überlegte ich; ich hätte sie besuchen sollen. Und wenn ich kurz am Haus vorbeifuhr, vielleicht brannte ja Licht? Nein, das war eine Schnapsidee. Ich machte aus einer Mücke einen Elefanten; ich redete mir bloß ein, dass sie mich sprechen wollte – es ging ihr wahrscheinlich blendend. Und dann schaltete ich den Computer aus, räumte meine Sachen weg und eilte zur Tür hinaus.
    »Na, schieben Sie mal wieder Überstunden, Mr. Vaughan?«, kicherten John und Kofi in der Pförtnerloge, bevor sie sich durch sämtliche Überwachungskameras schalteten, in der Hoffnung, irgendwo auf eine attraktive Junglehrerin zu stoßen, die sich aus- oder anzog.
    Schon aus einiger Entfernung bemerkte ich, dass im ganzen Haus die Lichter brannten, und das war überhaupt nicht Maddy-like. Selbst das Verandalicht strahlte wie ein Leuchtturm. Ich beobachtete das Haus eine Weile von der Straße aus, konnte sie aber nirgends entdecken. Ich hätte sie natürlich
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