Der Mann, der seine Frau vergaß
entschieden hatte. Er fand, ich hätte meine Ideale verraten; er konnte es nicht fassen, dass ich wenig Lust verspürte, die bösen, allmächtigen, superreichen Medienmoguln zu Fall zu bringen und selbst ein allmächtiger, superreicher Medienmogul zu werden.
Ich hatte nicht mehr in meine Online-Biografie geschaut, seit ich vor einer Woche alle humorigen Änderungen systematisch rückgängig gemacht und dabei unter anderem die Behauptungen gelöscht hatte, ich könne »mit den Tieren sprechen«, habe »Frankreich entdeckt« und verfüge über »eine zusätzliche Bauchspeicheldrüse«. Besonders ein Witz hatte mir danach keine Ruhe mehr gelassen:
Am 22. Oktober erlitt Vaughan eine dissoziative Fugue, nachdem er von seinem Gewinn der National Lottery erfahren hatte. Der Schock war so groß, dass er seither unter chronischem Gedächtnisverlust leidet und sich bis heute nicht erinnern kann, dass er gegen Vorlage des Lottoscheins, den er an einem sicheren Ort verwahrt hat, vier Millionen Pfund ausgezahlt bekommt.
Es handelte sich eindeutig um einen – wenn auch recht originellen – Scherz; ich wollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Zumal ich inzwischen jedes nur erdenkliche Versteck durchforstet hatte.
Wenn ich solche Lügenmärchen früher gelöscht hatte, waren sie im Handumdrehen durch neue Witze ersetzt worden, aber seit meiner letzten Korrektur war keine Änderung mehr erfolgt. Die Autoren hatten wohl schlicht die Lust verloren; eine Zeitlang hatte es Spaß gemacht, Mr. Vaughans Leben neu zu erfinden, doch wie es schien, waren die kreativen jungen Köpfe zu interessanteren Ufern aufgebrochen. Ich konnte mich eines leisen Gefühls der Kränkung nicht erwehren.
Aber dann stieß ich unter »Werdegang« auf einen Absatz, den ich noch nie gelesen hatte. Er lautete:
Mr. Vaughan war der beste Lehrer, den ich je hatte. Als ich nach der elften Klasse abging, um bei JD Sports anzufangen, kam er in den Laden und überredete mich, weiter zur Schule zu gehen. Wäre Mr. Vaughan nicht gewesen, hätte ich weder Abitur gemacht noch die Universität besucht.
Dieser Kommentar eines ehemaligen Schülers baute mich wieder auf. Ich war offenbar doch ein guter Lehrer gewesen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der ich das Leben meiner Schutzbefohlenen entscheidend geprägt und verändert hatte. »Heute bin ich Manager bei JD Sports«, prahlte mein früherer Zögling.
Obwohl mir immer neue, beweiskräftige Erinnerungen kamen, betrachtete ich die negative Seite von Vaughan v1.0 nach wie vor mit leidenschaftsloser Objektivität. Insbesondere die Scheidung schien nicht ich, sondern ein anderer durchgemacht zu haben. Und die Maddy aus der Zeit vor meiner Amnesie hatte mit dem Menschen, den ich heute kannte, nichts gemein. Erstere war weiter nichts als eine fiktive Figur aus einem halbvergessenen, kitschigen Familiendrama, Letzterer hingegen eine Frau aus Fleisch und Blut, die mich – ungeachtet all unserer Probleme – besser zu verstehen schien als ich mich selbst. Das Irrationale an dieser Maddy aber war, dass sie ständig zwischen diesen beiden Ebenen hin und her wechselte. Sie ärgerte sich über Dinge, die ihrem imaginären Pendant widerfahren waren, und warf dem echten Vaughan vor, was sich der fiktive Vaughan hatte zuschulden kommen lassen. Dass ich nicht mehr der Alte war, leugnete sie keineswegs; dennoch ließ sie mich nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern konnte.
Ich grübelte häufig darüber nach, inwieweit mein Gedächtnisverlust meinen Charakter verändert hatte. Was wiederum allerlei philosophische Fragen zur Beziehung zwischen Erfahrung und Erinnerung aufwarf, wie ich Gary bei einem Glas Bier auseinandersetzte. Wir saßen in einem überfüllten Pub neben einem lärmenden Spielautomaten. Vielleicht nicht unbedingt der beste Ort für eine existenzialistische Debatte über den Einfluss von Bewusstem und Unbewusstem auf die Entwicklung von Ich und Es.
»Mit anderen Worten: Ist mit den vergessenen Erfahrungen auch der Charakter verloren gegangen, den diese Erfahrungen geprägt haben? Wäre es denkbar, dass meine Persönlichkeit sozusagen zu meiner Kernnatur zurückgekehrt ist und ich jetzt noch einmal eine Art Identitätsbildung durchlaufe, die ausschließlich auf den Erfahrungen nach meiner Amnesie beruht?«
»Na ja, du warst vorher ein beschissener Fußballspieler, und du bist noch immer ein beschissener Fußballspieler. Was lernt uns das?«
»Also, ich bin vielleicht ein durchschnittlicher
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