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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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Zimmer.
    Ich setzte mich in den Flur und versuchte, mich zu beruhigen. Dass ich an den falschen alten Mann geraten war, versetzte mir einen ziemlichen Dämpfer. Vielleicht war es aber auch der richtige alte Mann gewesen, und Gary hatte lediglich vergessen, mir zu sagen, dass mein Vater ein syrischer Spion war, der es trotz seines unverständlichen Akzents und seiner zweifelhaften Vorliebe für grammatikalisch fragwürdige Kraftausdrücke zum Offizier der Royal Air Force gebracht hatte.
    Jetzt stand ich vor einem Zimmer, dessen Bewohner denselben Nachnamen trug wie ich. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging hinein. In dem Krankenbett lag, umringt von einem Wirrwarr aus sirrenden Apparaten, Schläuchen und Kabeln, ein abgezehrter alter Mann – die fleckige Haut spannte sich um seinen Schädel, die Lippen waren kaum noch zu erkennen. Der Kontrast hätte größer nicht sein können; gegen die modernen Monitore und die protzige, sündteure Technik wirkte das Männlein in ihrer Mitte wie eine Moorleiche aus der Bronzezeit.
    »Hallo?«
    »Bist du’s, Junge?«, sagte er durch seine Sauerstoffmaske.
    »Ja. Ja, ich bin’s.«
    »Das ist sehr lieb von dir. Dass du mich besuchst.« Seine Stimme war schwach, und er wandte beim Sprechen nicht den Kopf.
    »Keine Ursache. Das ist doch wohl das Mindeste. Soll ich dir irgendetwas holen?«
    »Nein danke. Mir fehlt nichts«, sagte er, obwohl eindeutig das Gegenteil der Fall war.
    Das Krankenhaus hatte mir versichert, mein Vater sei bei Bewusstsein und klarem Verstand, doch ich hatte insgeheim gehofft, dass der Patient schlafen oder wegen der Sauerstoffmaske nicht würde sprechen können und dass ich, als sein pflichtgetreuer Sohn, nur eine Weile an seinem Bett würde sitzen müssen und dann wieder nach Hause gehen konnte.
    »Wie fühlst du dich?«
    »Na ja. Ich kann von Glück sagen, dass es mich noch gibt.«
    »Hast du Schmerzen?«
    »Kaum. Halb so schlimm.«
    »Und ich kann dir wirklich nichts holen?«
    »Einen doppelten Whisky. Ohne Eis.«
    Ich lächelte über die Unbeschwertheit des alten Mannes, und mir wurde klar, dass mir mein Vater schon jetzt sympathisch war. Er hatte sich seinen Humor bewahrt, obwohl er auf der Schwelle des Todes stand. So wie er aussah, hatte er die Schwelle allerdings längst erfolgreich überschritten und war auf dem besten Weg, sich in den vier Wänden des Sensenmannes häuslich einzurichten. Im Zimmer stank es nach Desinfektionsmitteln, die den Geruch körperlichen Verfalls jedoch nur schwer kaschieren konnten.
    »Maddy und die Kinder. Waren hier …«
    »Ich weiß.«
    »Wunderbare Kinder. Ganz reizend.«
    »Ja.« Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. »Und wie sie das alles verkraftet haben.«
    Es dauerte einen Augenblick, bis der alte Mann meine Worte verarbeitet hatte.
    »Was, alles?«
    »Na ja, du weißt schon …«
    »Stimmt was nicht?«
    Schlagartig begriff ich, dass der alte Mann nichts von unserer Trennung wusste. Natürlich – mein Vater hatte ein krankes Herz, er war alt und gebrechlich, warum ihn also unnötig damit belasten, dass die Ehe seines einzigen Kindes gescheitert war? Aus demselben Grund hatte man ihm offenbar verheimlicht, dass ich verschwunden war und an chronischem Gedächtnisverlust litt.
    »Ich wollte sagen, die beiden haben es sehr gut verkraftet … dass ihr Großvater einen Herzanfall hatte.« Ich war auf perverse Weise dankbar, dass mir dieser medizinische Notfall aus der Klemme half.
    Plötzlich fing einer der Monitore an zu piepen. Unschlüssig sprang ich auf. An einem Gerät über dem Bett blinkte ein rotes Lämpchen. War es so weit? Würde mein Vater sterben, nur ein paar Minuten nachdem ich ihn kennengelernt hatte? Ich wollte eben Hilfe holen, als eine Krankenschwester hereinkam und seelenruhig einen Schalter umlegte, worauf der Alarmton verstummte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte wortlos zur Tür.
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Ja, der Apparat spinnt manchmal.«
    »Danke«, sagte der alte Mann, aber die Schwester war schon wieder draußen. »Fabelhaftes Personal.«
    »Dann hast du den Mut also noch nicht verloren?«
    »Ach, woher denn. Jammern nützt doch nichts.«
    »Ich bitte dich. Du hattest gerade deinen zweiten Herzanfall. Da darf man ruhig auch mal ein bisschen jammern.«
    »Nein, ich habe großes Glück gehabt. Alle sind sehr nett zu mir. Absolut fabelhaft.«
    Es war in der Tat »absolut fabelhaft«, dass mein Vater über seinen Zustand rein gar nichts Negatives zu sagen wusste.

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