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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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kenne. Aber wenn du ihn für tot gehalten hast, ist das ja eigentlich eine gute Nachricht. Er ist nicht tot – er lebt. Noch. Trotzdem solltest du dir vielleicht nicht allzu viel Zeit lassen, Alter … mit Herzanfällen ist schließlich nicht zu spaßen.« Und dann, als glaubte er, mich damit trösten zu können: »Perlzwiebel gefällig?«
    Ich bombardierte Gary mit Fragen, die ich schon viel früher hätte stellen sollen – schneller, als er sie beantworten konnte.
    »Wie alt ist er?« »Ist er bei Bewusstsein?« »Wann hatte er seinen letzten Anfall?« Und die vielleicht schwierigste Frage: »Wie nenne ich ihn?«
    »Wie meinst du das?«
    »Nenne ich ihn ›Dad‹ oder ›Daddy‹ oder ›Pop‹, oder rede ich ihn mit Vornamen an oder was?«
    »Keine Ahnung. ›Dad‹, glaube ich. Ja, alles andere wäre so ungewöhnlich, dass ich mich bestimmt daran erinnern würde.«
    Gary wusste nur, dass Maddy angerufen hatte, um mir ausrichten zu lassen, dass sie mit den Kindern zu deren Großvater ins Krankenhaus fahren wolle. Er liege nicht mehr auf der Intensivstation und dürfe kurzzeitig Besuch empfangen.
    »Madeleine hat angerufen?«
    »Ja, auf Lindas Handy. Sie dachte, es würde dich vielleicht interessieren.«
    »Ach. Hat Maddy sonst noch was gesagt? Soll ich sie zurückrufen?«
    »Nein.«
    »Was heißt nein? Dass sie nichts gesagt hat?«
    »Nein – sie hat gesagt, du sollst auf keinen Fall zurückrufen. Sie hat die Nummer des Krankenhauses hinterlassen. Aber eins ist merkwürdig …«
    »Was?«
    »Die Nummer des Krankenhauses besteht fast nur aus Einsen. Eins, eins, eins, eins. Komisch, nicht?«
    Ich plumpste auf einen Stuhl, und als Gary klar wurde, dass die schlechte Nachricht endlich bei mir angekommen war, gab er sich alle Mühe, sein Mitgefühl zu demonstrieren, auf seine etwas unbeholfene, kumpelhafte Art.
    »Das ist vermutlich ein harter Schlag für dich, Alter.«
    »Na ja …«
    »Erst kannst du dich nicht an ihn erinnern, und dann macht auch noch seine Pumpe schlapp.«
    »Ja – das ist nicht gut.«
    »Nicht gut. Du sagst es. Gar nicht gut sogar. Die Dinger schmecken irgendwie komisch. Können Perlzwiebeln schlecht werden?«
    »Weißt du zufällig, um wie viel Uhr Maddy ihn besuchen wollte?«
    »Äh, nein. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie in diesem Schickimicki-Essig schwimmen, Balsamico oder wie der Scheiß heißt.«
    »Vielleicht sollte ich sie trotzdem anrufen. Nur damit ich weiß, wann sie hinfährt und wie das Ganze läuft et cetera pp.«
    »Das könntest du natürlich machen. Nur dass sie ausdrücklich gesagt hat, dass du sie nicht anrufen sollst. Hmm – ich glaube, ich muss kotzen.«
    Da ich mich darauf nur unzureichend vorbereitet fühlte, war ich bislang nicht einmal meinen eigenen Kindern gegenübergetreten. Im Falle meines Vaters ließ sich die direkte Konfrontation jedoch schwerlich vermeiden. Ich musste ihn kennenlernen, damit ich um ihn trauern konnte, falls er starb.
    Als ich das Krankenhaus betrat, überlegte ich einen Augenblick, ob ich meinem Vater etwas aus dem kleinen Zeitschriften- und Andenkenladen im Erdgeschoss mitbringen sollte. Eine Karte, vielleicht, oder einen Blumenstrauß? Oder etwas, das der Zuversicht Ausdruck verlieh, dass es ihm schon sehr bald sehr viel besser gehen würde: eine Zeitschrift etwa oder doch ein Buch? Allzu dick durfte es jedoch nicht sein; Krieg und Frieden oder der vierte Harry Potter waren des Guten eindeutig zu viel. Dabei hatte ich natürlich keine Ahnung von den Vorlieben oder Interessen meines Vaters. »Dad« war bislang nichts weiter als ein Amalgam aus sämtlichen väterlichen Vorbildern, die meine Amnesie überdauert hatten. Baron von Trapp und König Lear gingen eine unheilige Allianz ein mit Homer Simpson, Darth Vader und dem witzelnden Vater aus einer Saucenreklame der Siebzigerjahre.
    Im vierten Stock wies eine Schwester mir den Weg zum Zimmer meines Vaters, und als ich eintrat, erlebte ich eine angenehme Überraschung: Der kräftige, dunkelhaarige alte Mann, der vor mir im Bett lag, machte einen kerngesunden Eindruck. Das also war mein Vater. Das war Dad. Ich setzte mich und nahm pflichtschuldig seine plumpe kleine Hand.
    »Hallo, Dad. Ich bin’s. Ich bin so schnell wie möglich gekommen.«
    Der Alte musterte mich einen Augenblick. »Scheiße, wer bist du, Scheiße-Arschloch?«, sagte er mit starkem ausländischen Akzent. Als ich den arabischen Namen auf seinem Plastikarmband sah, sprang ich erschrocken auf und lief aus dem

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