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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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gehangen, wäre in diesem Augenblick der Alarm losgegangen.
    Ein paar Minuten später kam eine Schwester ins Zimmer und sagte, mein Dad werde jetzt ein Weilchen schlafen.
    »Er ist erstaunlich guter Dinge, nicht?«
    »Er gehört zu den Menschen«, erwiderte sie lächelnd, »die einem die Freude am Leben wiedergeben.«
    »Er ist mein Vater.«
    »Ja.« Sie lächelte. »Ich weiß.«
    Zu meiner Enttäuschung waren weder Gary noch Linda zu Hause, als ich in die Wohnung kam. Ich hätte ihnen liebend gern von meinem Vater berichtet und ihnen erzählt, was er über Maddy und was die Krankenschwester über ihn gesagt hatte. Aber ich konnte ja Maddy anrufen und mit ihr über ihn sprechen. Es war schließlich nur natürlich, wenn wir uns über unsere jeweiligen Krankenbesuche austauschten, oder? Die Nummer konnte ich inzwischen auswendig, doch als ich die letzte Ziffer eintippen wollte, kamen mir plötzlich Bedenken. Ich legte auf und ging in den Flur. Ich streckte mich auf dem Teppich aus und starrte eine Zeitlang an die Decke, wo der Rauchmelder alle paar Minuten blinkte, um anzuzeigen, dass niemand den Akku herausgenommen hatte. Dann stand ich kurz entschlossen auf, wählte die Nummer – und erschrak, als fast augenblicklich abgenomen wurde.
    »Hallo?«, sagte eine Mädchenstimme, freundlich und scheinbar erstaunt, dass überhaupt jemand anrief. »Hallo, wer ist da, bitte?«, wiederholte sie nach einer kurzen Pause. »Mum, es ist jemand dran, aber er sagt nichts …«
    »Hallooo?«, sagte Maddy und nahm ihr den Hörer aus der Hand. »Hallo? Hmm … können Sie es vielleicht noch mal probieren, ich kann Sie leider nicht hören … Danke, tschüs.«
    Ich bekam gerade noch mit, wie Dillie entrüstet »Mum!« rief, dann war die Leitung tot. Ich hatte zum ersten Mal die Stimme meiner Tochter gehört.
    Da ich mein eigenes Handy benutzt, die Anruferkennung jedoch unterdrückt hatte, fragte ich mich, ob die beiden wohl die Identität des Störenfriedes festzustellen versuchten. Ich betrachtete das Telefon in meiner Hand, als mein Blick auf das Kamera-Icon im Menü fiel. Fieberhaft scrollte ich nach rechts, bis ich auf einen Ordner mit der Bezeichnung »Fotos« stieß, von dem ich bislang nichts gewusst hatte. Ein winziger Klick förderte eine ganze Bildergalerie zutage: Jamie mit dem Hund, Maddy mit dem Hund, ich mit dem Hund. Dann etwa hundert weitere Bilder, auf denen nur der Hund zu sehen war. Ich hegte den leisen Verdacht, dass Dillie die Kamerafunktion weitaus häufiger benutzt hatte als ich. Aber ich entdeckte auch ein paar Schnappschüsse von ihr, auf denen sie sich in Pose warf und den Fotografen angrinste. Langsam scrollte ich alle Fotos noch einmal durch und betrachtete die beiden kleinen Menschen, die Maddy und ich in die Welt gesetzt hatten. Und dann starrte ich so lange auf Fotos von Maddy, bis der Akku fast leer war, versuchte mir den Augenblick der Aufnahme vorzustellen und die Sätze, die dabei gefallen waren. Und kein noch so rationaler Gedanke konnte die magische Anziehung zunichtemachen, die sie auf mich ausübte. Die Frau, von der Gary gesagt hatte, ich könne sie niemals zurückgewinnen. Die Frau, von der mein Vater gesagt hatte, sie sei die Richtige für mich.
    Eine Stunde später stand ich vor dem Badezimmerspiegel und setzte mir die Klinge an den Hals. Ein letzter Blick, dann schritt ich zur Tat. Nicht lange, und dicke, graugestreifte Bartbüschel fielen ins Waschbecken. Ich klaubte die haarigen Überreste des alten Vaughan vom weißen Porzellan und warf sie in den Treteimer. Dann stutzte ich die borstige Matte auf Golfrasenhöhe, seifte die groben Stoppeln mit männlich duftendem Rasierschaum ein und kratzte sie mit einem nagelneuen Rasierer ab, der über weitaus mehr Klingen verfügte als nötig. Nach und nach kamen die Umrisse meines Gesichts zum Vorschein, das sich seit den späten Achtzigerjahren hinter dichtem Haargestrüpp versteckt gehalten hatte. Wahrscheinlich hatte ich damals irgendwo gelesen, dass Mrs. Thatcher keine Bärte mochte.
    Die Geburt meines Gesichts ging nicht ohne Schmerzen und Blutvergießen vonstatten. Ich war alles andere als ein versierter Nassrasierer, darum drückte ich rings um das Kinn etwas zu fest auf und übersah die eine oder andere Stelle unterhalb der Unterlippe. Doch als ich mein bleiches, glänzendes Gesicht schließlich gewaschen und eingecremt hatte, starrte mir aus dem Spiegel ein ganz neuer Mensch entgegen. Ich versuchte, mir einzureden, ich sei ein gutaussehender

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