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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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den Hals trug, dem ich nicht nur entnehmen konnte, wie sie hieß und in welcher Funktion sie tätig war, sondern auch, dass die Schule dringend in eine neue Digitalkamera investieren musste.
    Den Namen des Direktors hatte ich vorher extra noch einmal gegoogelt, nur wusste ich leider nicht, ob ich ihn mit »Peter« oder »Mr. Scott« anreden sollte. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, mich persönlich willkommen zu heißen und mit mir über meine »Wiedereingliederung in die schulische Gemeinschaft« zu sprechen. Er ging mit mir durch die Flure, was mir ausreichend Gelegenheit gab, dem einen oder anderen Kollegen die Hand zu schütteln und mich mit dem Gebäude »neu vertraut zu machen«. Alle verhielten sich auffallend normal, was den Schluss nahelegte, dass man ihnen eingeschärft hatte, sich möglichst normal zu verhalten. In der Verwaltung entfernte eine Sekretärin hastig ein Schild mit der Aufschrift Man muss nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten, aber schaden kann es nicht , das über ihrem Computer an der Wand hing. Alle lächelten und begrüßten mich herzlich und widmeten sich dann wieder ihren jeweiligen Tätigkeiten. Im Hintergrund wurde eifrig auf Computerkeyboards eingehackt – das Kommunikationssystem der Schule brach vermutlich fast zusammen unter der Last zahlloser Klatsch-und-Tratsch-E-Mails, die sich mehr oder minder eingehend mit der Frage auseinandersetzten, ob ich vielleicht nur simulierte.
    Ich hatte auch während meiner Abwesenheit mein volles Gehalt bezogen, und für heute Nachmittag war eine Konferenz anberaumt, bei der es darum gehen sollte, was ich unter den gegebenen Umständen zu leisten imstande sei.
    »Ich habe mir den Lehrplan noch mal vorgenommen – ich möchte gern so schnell wie möglich wieder unterrichten«, erklärte ich.
    »Nur keine Eile«, sagte Peter resp. Mr. Scott und musterte mich erstaunt. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
    »Nein, wirklich. Wenn meine Stunden entweder ausfallen oder aber von Aushilfslehrern übernommen werden, bin ich es meinen Schülern schuldig, so bald wie möglich wieder an die Arbeit zu gehen.«
    »Meine Güte. Sie haben wirklich alles vergessen, was?«
    Zwei Schüler verschwanden um eine Ecke, riefen: »Hey, Kloputzer Vaughan! Wo ist denn deine Bürste?«, und liefen lachend davon.
    »Kloputzer Vaughan?«
    »Ich bin sicher, dass nur eine winzig kleine Minderheit der Schüler Sie so nennt. Sie haben sich um die Schule sehr verdient gemacht. Und das weiß Gott nicht nur, weil Sie einmal sämtliche Toiletten gereinigt haben.«
    »Na, Kloputzer, alles klar? Lange nicht gesehen«, sagte eine Kantinenfrau im Vorbeigehen.
    »Warum habe ich sämtliche Toiletten geputzt?«
    »Um den Schülern eine Lektion in Sachen ›Waschraumhygiene‹ zu erteilen. In dieser Hinsicht hatten Sie einen leichten Spleen. Ich an Ihrer Stelle hätte bei der Schülerversammlung zwar nicht unbedingt eine Klobürste hochgehalten, aber ihre Aufmerksamkeit war Ihnen damit sicher.«
    »He, Kloputzer Vaughan ist wieder da!«, rief jemand im Innenhof, als wir vorbeikamen.
    »Na ja, das legt sich schon wieder …«
    »Mag sein. Es ist jetzt immerhin zwei Jahre her. Offen gestanden, Vaughan, hat das Ihrem Selbstbewusstsein einen ziemlichen Knacks verpasst. Sie hatten nicht nur private Probleme, sondern noch dazu die Lust an der Arbeit verloren. Und das merken die Kinder natürlich.«
    Vielleicht war ich doch noch nicht ganz so weit, dass ich den Schülern gegenübertreten konnte. Ich erklärte Peter resp. Mr. Scott, ich sei nach wie vor in neurologischer Behandlung, und so kamen wir überein, dass ich es zunächst mit einer leichten Tätigkeit in der Verwaltung versuchen würde. Dazu brauchte ich nur noch das Attest des Schularztes, der wegen Krankheit derzeit leider verhindert war. Trotzdem: Ich durfte wieder arbeiten! An meinem alten Arbeitsplatz! Auf dem Weg nach draußen warf ich einen Blick in die Toiletten. »Ist ja ekelhaft«, dachte ich. »Hier müsste mal jemand ordentlich sauber machen.«
    Obwohl es mir durchaus nicht leichtfiel, noch einmal bei null anzufangen, fand ich es aufregend, wie sich die Puzzleteile peu à peu zum Bild eines vollständigen Menschen fügten. Ich hatte einen Job, eine Familie; zum ersten Mal schimmerte ein schwacher Silberstreif am Horizont. Heute war tatsächlich der erste Tag vom Rest meines Lebens. Ich hatte zwar noch immer keine Vergangenheit, aber wozu gab es das Internet? Ich hatte seit achtundvierzig Stunden keinen Blick auf meine

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