Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
Vom Netzwerk:
Notendurchschnitt, ob er Anspruch auf ein kostenloses Mittagessen hatte und Englisch seine Muttersprache war. Die einzigen Datensätze, auf die ich nicht zugreifen konnte, waren die von Jamie und Dillie; der Blick auf das Leben meiner eigenen Kinder blieb mir verwehrt. Meine heutige Aufgabe bestand darin, die Daten von 540 Schülern der Sekundarstufe eins in den Computer einzugeben. Trotzdem kehrten meine Gedanken geradezu zwanghaft immer wieder zu den beiden Kindern zurück, die ich noch heute Abend kennenlernen sollte.
    Ich hatte mich bereit erklärt, meinen Sohn und meine Tochter um Punkt sechs zu Hause abzuholen und mit ihnen, ganz der Scheidungsvater, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Danach wollten wir uns mit Maddy auf eine Pizza treffen, und am Ende des Abends würde ich mich hoffentlich wieder wie ein Vater fühlen. Inzwischen wussten sie von meiner neurologischen Störung, doch ich hatte Zweifel, ob sie in der Lage waren, das Ausmaß meiner Amnesie zu begreifen. Wenn man Maddy Glauben schenken durfte, freuten sie sich schon darauf, mich wiederzusehen, weshalb sie vorgeschlagen hatte, dass ich erst einmal auf eine zwanglose Plauderei bei einer Tasse Tee vorbeischauen sollte, bevor ich mit den Kindern zum Festplatz marschierte. »Schau sie dir genau an, bevor du sie auf den Weihnachtsmarkt mitnimmst«, hatte Gary mich gewarnt. »Sonst stehst du hinterher ziemlich dumm da, wenn sie verloren gehen und du nicht weißt, wie deine eigenen Blagen aussehen.«
    Ich kam zwanzig Minuten zu früh vor dem Haus an und lief auf dem bitterkalten Gehsteig eine Weile auf und ab, bis Madeleine die Haustür aufriss und rief: »Warum klingelst du denn nicht, verdammt noch mal?«
    »Tut mir leid – ich war ein bisschen zu früh dran und wollte euch – wie soll ich sagen? – keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
    »Schon gut – diese Friends -Folge haben sie, glaube ich, schon circa hundertzwölf Mal gesehen.«
    Ohne zu zögern streckte ich die Hand übers Gartentor, zog den Riegel zurück und stieß es auf.
    »He – ich habe gerade das Gartentor aufgemacht.«
    »Äh, ja …?«
    »Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken! Eine unbewusste Erinnerung!« Es gab mir das Gefühl hierherzugehören. Madeleine trug ein gepunktetes rotes Kleid, das irgendwie witzig aussah, und hielt die Arme zum Schutz gegen die Kälte vor der Brust verschränkt.
    »Kinder!«, rief sie. »Euer Vater ist da!«
    Eine Lawine der Begeisterung kam die Treppe heruntergedonnert und traf mich mit solcher Wucht, dass ich fast aus dem Gleichgewicht geriet, als beide Kinder die Arme um mich schlangen und mich drückten.
    »Daddy!«, schrie die kleine Dillie, und ich stand da wie ein Ölgötze und wusste nicht recht, was ich tun sollte, weshalb ich den beiden schließlich leicht verlegen den Rücken tätschelte. Sie rochen nach Waschpulver und Haarspülung, frisch und neu. Der Hund strich fröhlich bellend um uns herum. Mein Herz erinnerte sich an etwas, das mein Kopf vergessen hatte: Mir war, als hätte ich zwei Arme zurückbekommen, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass sie mir amputiert worden waren. Ich würde monatelang üben, ganz neu lernen müssen, wie sie funktionierten, bis die alte Vertrautheit wieder da war, trotzdem kam es mir vor wie ein Wunder – Maddy und ich hatten diese großartigen Menschen, diese beiden kleinen Persönchen gemeinsam in die Welt gesetzt; das Mysterium des Lebens erfüllte mich mit Ehrfurcht.
    Ich beschloss, es ihnen nachzutun, und versuchte, mich so natürlich wie möglich zu verhalten. Ich fragte sie, was sie in letzter Zeit getrieben hätten, und ich spürte, dass Maddy aufmerksam beobachtete, wie ich mit ihnen umging, und sah, wie sie lächelte, als ich schließlich, endlich den Mut fand, mit ihnen zu scherzen und herumzutollen. All die Sorgen und Nöte, die mich vor diesem Zusammentreffen geplagt hatten, erwiesen sich als unbegründet; sie machten es mir unglaublich leicht. Sie waren unverkrampft und gesprächig – wenn Dillie aufgeregt war, sprach sie schneller, als ich es für menschenmöglich gehalten hätte, wechselte mitten im Satz abrupt das Thema, und ich hatte noch nicht gelernt, dass es sinnlos war, auch nur zu versuchen, ihr zu folgen.

Weitere Kostenlose Bücher