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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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bevorstehende Geburt eines Kindes noch weniger Begeisterung hatte aufbringen können als Gary. König Herodes, beispielsweise. Doch obwohl sich eigentlich alle Auseinandersetzungen um dieses Thema drehten, kam es fast nie direkt zur Sprache – wohl aus Angst, an seismische Kräfte zu rühren, die sich nicht wieder bändigen ließen.
    »Du bist so sehr mit dir selbst beschäftigt, dass du mir nie etwas erzählst. Du hast ja noch nicht mal gemerkt, dass Vaughan sich den Bart abrasiert hat. Und hör gefälligst auf, an deinem beschissenen iPhone rumzufummeln!«
    »Ich fummle nicht. Ich aktiviere den Voice Recorder.«
    » Du nimmst unseren Streit auf ?!!«
    »Ja, weil du mich hinterher jedes Mal falsch zitierst, mir das Wort im Mund herumdrehst oder dir einfach etwas ausdenkst, das ich so nie gesagt habe.«
    »Dann machst du das also nicht zum ersten Mal?«
    »Nein – das habe ich dir doch schon vor einer Ewigkeit erzählt.«
    »Hast du nicht.«
    »Habe ich doch – Moment, ich hab die Aufnahme hier … du kannst es dir anhören.«
    Wie sich herausstellte, hatte Gary all ihre ehelichen Konflikte aufgezeichnet und in chronologischer Reihenfolge in einem eigens angelegten Ordner archiviert. Bei Gelegenheit wollte er sie auch noch nach Themen sortieren. Wenn ein Streit zu eskalieren drohte und er den Voice Recorder einschaltete, war er manchmal regelrecht enttäuscht, wenn Linda schließlich einlenkte und er die Datei wieder löschen musste.
    Dies war die einzige Beziehung, die ich seit meiner Amnesie aus nächster Nähe miterlebt hatte, und die Tatsache, dass diese Ehe ganz offensichtlich besser funktionierte als die meine, stellte mich, gelinde gesagt, vor ein Rätsel. Ich überlegte, woran die Beziehung zwischen Maddy und mir wohl zerbrochen war. Welches Beben hatte unser Haus schließlich zum Einsturz gebracht?
    An diesem Abend hörte ich aus dem Schlafzimmer nebenan lautes Stöhnen, und ich fragte mich, ob Gary auch das mit seinem iPhone aufzeichnete. Beim Sex gingen sie offenbar genauso emphatisch zu Werke wie beim Streiten. Eben noch hatten sie vor Wut gebrüllt, nun kreischten sie vor Ekstase. Gary und Linda schienen eine manisch-depressive Ehe zu führen.
    Wenn ich mein Leben wieder in den Griff bekommen wollte, musste ich früher oder später bei Gary und Linda ausziehen und mir etwas Ruhigeres suchen. Ein Häuschen in Basra oder dergleichen. Außerdem konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich den beiden allmählich auf die Nerven ging. Vormittags hatte Linda in meinem Zimmer staubgesaugt; plötzlich kam sie mit aufgebrachter Miene ins Wohnzimmer gestürzt. »Was, bitte, sucht die elektrische Heckenschere unter Babys Kinderbett?«
    »Ach, die! Also, dafür gibt es eine einfache Erklärung …«
    »Ein Meter rasiermesserscharfer Stahl! Was, wenn Baby darauf herumgekrabbelt wäre?«
    » Das Baby«, sagte Gary, ohne aufzublicken.
    Ich hielt Lindas Szenario für äußerst unwahrscheinlich. »Mit Verlaub, aber das Baby ist doch noch nicht mal auf der Welt …«
    »Was, wenn Baby den Stecker in die Steckdose gesteckt und mit dem Ding gespielt hätte?«
    » Das Baby.«
    Da der Geburtstermin beständig näher rückte, hielt ich es für das Beste, die glücklichen Eltern sich selbst zu überlassen, damit sie sich in Ruhe anschreien konnten. Seit der Debütant Vaughan erstmals das gesellschaftliche Parkett betreten hatte, waren ein paar Wochen ins Land gegangen, und mein Selbstbewusstsein wuchs von Tag zu Tag. Anfangs war ich mir wie ein Eindringling in meinem eigenen Leben vorgekommen. Nicht unbedingt wie ein ungebetener Gast bei einer chaotischen Flurfete im Studentenwohnheim – eher wie ein Hells Angel mit Pornobrille, der eine fürnehme Dinnerparty sprengt.
    Zu meinem Erstaunen hatte ich eine verblüffende Fähigkeit entwickelt: Ich konnte einem neuen Gesicht auf den ersten Blick ansehen, ob uns eine gemeinsame Geschichte verband oder nicht. Obwohl mir all diese Leute fremd waren, verrieten ihre Augen unterschiedliche Erwartungshaltungen. Diejenigen, die mich seit Jahren kannten, flehten mich förmlich an, mich doch bitte an sie zu erinnern, während die gleichgültigen Blicke flüchtiger Bekannter keine Gegenleistung zu fordern schienen.
    »Hallo, Vaughan. Gut sehen Sie aus. Schön, dass Sie wieder da sind«, sagte die Pförtnerin an meiner alten Schule, als ich das Gebäude betrat, und ich wusste auf Anhieb, wie gut sie mich gekannt hatte. Wobei es mir zum Vorteil gereichte, dass sie einen Ausweis um

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