Der Mann, der seine Frau vergaß
wochenlangen Odyssee durch Krankenbetten und Babyzimmer endlich das Gefühl, den Ort gefunden zu haben, wo ich hingehörte.
Ich erfuhr, dass ich jede Menge Arbeit in die Renovierung gesteckt hatte. Sowohl die neue Küche als auch die Einbauschränke gingen auf mein Konto. Sogar die Gartenlaube und die Holzterrasse vor der Küchentür hatte ich gezimmert. Kurioserweise erfüllten mich diese Errungenschaften mit so etwas wie abstraktem Stolz. Anders als die vielen Schauergeschichten, die mit dem neuen Vaughan nicht das Geringste zu tun hatten.
Wenn wir dieses Haus verkaufen mussten, würden die Wolken übermalt und mein selbstgebautes Bett herausgerissen, weil es nicht dem Geschmack der neuen Besitzer entsprach. Von der unsichtbaren Arbeit, die Maddy und ich in die Erziehung unserer Kinder investiert hatten, ganz zu schweigen. Nicht mehr lange, und sie kamen in die Pubertät: Wie würden sie es wohl verkraften, wenn man sie der Geborgenheit ihrer Familie beraubte und sie fortan zwischen ihren geschiedenen Eltern hin- und herpendeln mussten? Würden ihr Witz und ihr sprühendes Temperament wie alles andere auf der Müllkippe landen?
Es war mir nach wie vor ein Rätsel, warum unsere Familie sich »in Rauch aufgelöst« hatte, wie Jean zu sagen pflegte. Als die Kinder abends im Bett lagen, machte ich vorsichtig die Wohnzimmertür hinter mir zu und holte den ausrangierten Videorecorder hervor, den ich unter der Treppe gefunden hatte, um mir ein paar alte Familienvideos mit so verheißungsvollen Titeln wie »Weihnachten 2007« anzuschauen. Zwar hatte ich leichte Gewissensbisse, aber seien wir ehrlich: Welcher Mann sieht sich nicht heimlich Filme von sich und seiner Frau an, aus einer Zeit, als sie noch eine glückliche, zufriedene Ehe führten? Vielleicht war im Internet ja sogar noch härterer Stoff zu finden; vielleicht konnte man irgendwo Paparazzifotos von Vaughan und Madeleine herunterladen, auf denen sie Händchen haltend am Strand spazieren gingen oder zusammen durch ein Mohnfeld liefen.
Als Baby war Jamie offenbar so etwas wie ein Superstar gewesen, spielte er doch die Hauptrolle in zahllosen knallharten Reißern wie »Jamie zermanscht seine erste Banane« oder »Jamie sieht das Meer!« (Eine interessante Interpretation des Hauptdarstellers, der es augenscheinlich vorgezogen hatte, die gesamte Szene zu verschlafen.) Meine Tochter musste bei den Probeaufnahmen durchgefallen sein, denn sie spielte kaum mehr als eine Statistenrolle. Die beiden als Babys zu sehen war ergreifend und herzzerreißend zugleich, als würde ich sie das erste Mal zu Gesicht bekommen, wobei ich natürlich den Vorteil hatte, dass ich wusste, was aus ihnen geworden war.
Je älter sie wurden, desto mehr Aufnahmen gab es von ihnen; wenn man sie nicht mehr dauernd zu tragen brauchte, hatte man die Hände wieder für den Camcorder frei. Die kleine Dillie sang mit engelsgleicher Stimme und in Wichteluniform ein Lied, auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie den Smith’-Hit »Heaven Knows I’m Miserable Now« bei den Pfadfindern gelernt hatte. Und Jamie stürmte beim Sportfest seines Kindergartens auf die Ziellinie zu. Ich starrte gebannt auf den Bildschirm, denn Jamie lag in Führung – mein Sohn würde das Rennen gewinnen! Und dann, einen Meter vor dem Ziel, sah er, dass ich ihn filmte, blieb stehen und winkte in die Kamera, während seine Kameraden an ihm vorbeizogen.
Ich machte eine Pause und holte mir noch zwei Bier aus dem Kühlschrank, bevor ich den Videomarathon fortsetzte. Aufnahmen von meiner Frau und meinen Kindern am Meer. Der Wind blies so heftig ins Mikrofon, dass unsere Stimmen kaum zu hören waren. Woody war noch ein Welpe und fand das Wasser gleichermaßen unheimlich und faszinierend. Erst bellte er die Wellen an, dann jagte er mit Karacho den Strand hinauf, fiel über seine eigenen Beine und lief wieder hinunter ans Wasser. Die Kinder waren noch jung und wahnsinnig süß, und doch war ihre Persönlichkeit im Wesentlichen bereits voll ausgeprägt. Ihre Erinnerungen an diesen Urlaub beruhten vermutlich größtenteils auf diesem Film. Ihr Gehirn hatte ihnen weisgemacht, dass sie sich tatsächlich an diesen Tag am Strand erinnerten und nicht etwa an die Aufnahmen, die sie seither unzählige Male gesehen hatten.
Dabei wurde mir Folgendes klar: dass wir unsere Erinnerungen ständig revidieren, Gespräche rückblickend »umschreiben« und die Reihenfolge der Ereignisse auf den Kopf stellen. Das Scheidungsverfahren hatte
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