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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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Maddys negative Erinnerungen geradezu zwangsläufig in den Vordergrund gerückt; sie hatte gar nicht anders gekonnt, als unsere gemeinsamen Jahre zu einer einzigen endlosen Skandalgeschichte zu verzerren, die jedem Revolverblatt zur Ehre gereicht hätte. Ich durchforstete die Videos auf der Suche nach weiteren Beweisen, die geeignet waren, den Angeklagten zu entlasten. Und da war ich auch schon – dem Alter der Kinder nach zu urteilen, konnte es höchstens ein, zwei Jahre her sein. Ich stand am Grill im Garten unseres Hauses, während Jamie filmte und das Geschehen laufend kommentierte.
    »Ich könnte das Fleisch auch im Ofen vorgaren, und dann wirfst du es noch mal auf den Rost«, schlug Maddy vor. Die rohen Hähnchenkeulen waren offenbar noch nicht einmal lauwarm, und die weißen Rauchfetzen, die von der Holzkohle aufstiegen, zerstoben im Abendwind.
    »Ach was, das wird schon«, beharrte der Koch allem Anschein zum Trotz. Jamies freche Bemerkungen zu meinem missratenen Grillversuch wurden immer zahmer, je tiefer ihm der Magen in die Kniekehlen rutschte, und zum Schluss klang seine Stimme, als stünde er kurz vor dem Verhungern. Als es zu dämmern begann, sprach Dillie einen nicht ganz ernst gemeinten Spendenaufruf zu Gunsten der hungernden Kinder von Südlondon in die Kamera, und dann kam Maddy mit einer Grillpfanne ins Bild, um das Fleisch in den Ofen zu befördern, wo es in zwanzig Minuten gar sein würde.
    Mit einem Mal schlug die Stimmung um. »Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß«, blaffte ich und holte mir das Hähnchen postwendend zurück. »Wenn ich sage, ich grille, dann grille ich.«
    Jamie ließ die Kamera sinken, und zu den verwackelten Aufnahmen der scharrenden Füße meines Sohnes hörte man, wie Maddy und ich uns anschrien.
    »Musst du eigentlich immer den Kontrollfreak raushängen lassen?«
    »Ich bin kein Kontollfreak. Ich versuche lediglich, dafür zu sorgen, dass die Kinder was zu essen kriegen.«
    »Dann essen wir heute eben mal ein bisschen später – na und? Sonst meckerst du immer, dass ich nicht oft genug koche, und wenn ich’s dann doch mal tue, mischst du dich ein.«
    »Von Kochen kann ja wohl keine Rede sein. Das Hähnchen ist eiskalt, dabei liegt es seit geschlagenen zwei Stunden auf dem Rost. Ich habe dir ja gesagt, du sollst den Grill vorheizen, aber nein, du wolltest ja partout nicht auf mich hören.«
    Jamie trottete mit der Kamera ins Haus, und das erbärmliche Ehedramolett trat in den Hintergrund, bis der Camcorder schließlich abgeschaltet wurde. Doch die erbitterte Auseinandersetzung war zunehmend persönlich geworden; statt um das ursprüngliche Thema drehte sie sich plötzlich um die Charakterfehler des jeweiligen Partners, und es ging nicht mehr um die Verteidigung des eigenen Standpunkts, sondern nur noch darum, den anderen zu verletzen.
    Ich sah mir das Band noch ein paarmal an, als mir auffiel, dass ich ein Bier in der Hand hielt und schon ein paar leere Flaschen vor mir auf dem Tisch standen. In dem Moment, als die Stimmung kippte, schwenkte die Kamera nach unten und erfasste Dillies betrübte Miene. In ihrem neun Jahre alten Gesicht spiegelte sich eine Art resignierter Trauer, als hätte sie solche Szenen schon des Öfteren miterlebt. Ich konnte mich nicht entsinnen, eine sommerliche Grillparty ruiniert zu haben, und obwohl die Beweise eindeutig gegen mich sprachen, fiel es mir schwer zu glauben, dass dieser Mann tatsächlich ich war.
    Ich spulte das Band bis zum Ende von Dillies witzigem Spendenaufruf zurück und drückte die Aufnahmetaste des Videorecorders. Die letzten fünf Minuten dieser Geschichte wurden nun gelöscht; der deprimierende Schluss war bei der Testvorführung durchgefallen, und so ließ das Studio den Film kurzerhand umschneiden.
    Ich stellte mir vor, wie Maddy in Erinnerungen schwelgte. »Entsinnst du dich noch an den wunderschönen Sommerabend, als wir grillen wollten und die Kohle nicht heiß wurde und Jamie deine Kochkünste mit spöttischen Bemerkungen kommentiert hat?«
    »Aber ja – und Dillie hat diesen urkomischen Spendenaufruf in die Kamera gesprochen.«
    »Das war ein lustiger Abend, nicht?«
    »Ja …«
    Als ich in die Küche kam, stellte ich fest, dass der Altglaseimer von leeren Bierflaschen fast überquoll. Ich betrachtete das Sechserpack auf der Anrichte. Ich nahm die erste Büchse, riss den Ringverschluss auf und leerte den Inhalt ins Spülbecken. Dann öffnete ich die nächste und roch den würzigen Duft des

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