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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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sich wahlweise eine Kugel in den Kopf jagen, sich erhängen oder sich die Pulsadern aufschneiden.
    »Äh, also, das ist sehr freundlich«, sagte ich und versuchte, ein Hüsteln oder einen Schluckauf zu unterdrücken, »aber der Speiseplan für diese Woche steht, und ich habe auch schon alles eingekauft. Vielleicht ein andermal?«
    Da ich den Kindern versprochen hatte, dass sie sich zum Abendessen eine Pizza bestellen durften, musste ich all meine Überredungskünste aufbieten, um den Boten dazu zu bewegen, sich an der nächsten Ecke mit mir zu treffen, damit der Nachbar sein Moped nicht bemerkte. Doch auch in der Küche fühlte ich mich inzwischen fast wie zu Hause. Ich steckte die Nase in das eine oder andere Kochbuch und servierte den Kindern ihre Lieblingsgerichte. Sie unterstützten mich, wo es nur ging, und erklärten mir genau, wie alles funktionierte. Angeblich wurde nach jedem Essen der Geschirrspüler angeworfen, und sie brauchten auch den Tisch nicht abzuräumen, weil Mum und ich stets nachdrücklich darauf bestanden hatten, dass sie sich Family Guy ansahen, »weil das die Verdauung fördert«.
    Natürlich wusste ich, dass sie mich auf den Arm nahmen, doch weil sie mich zum Lachen gebracht hatten, ließ ich sie trotzdem fernsehen. Das war quasi ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn ihre Bitten und Ausflüchte nur clever genug waren, bekamen sie im Allgemeinen ihren Willen. »Dad, ich hab diese Woche noch kein Taschengeld gekriegt – gibst du mir sechs Pfund fünfzig?«
    »Sechsfünfzig? Mum hat gesagt, du kriegst nur einen Fünfer.«
    »Plus einsfünfzig Bearbeitungsgebühr.«
    Ursprünglich hatte ich Dillies Vorschlag, die Zwillinge aus ihrer Klasse bei uns übernachten zu lassen, rundheraus abgelehnt. Doch sie hatte empört darauf beharrt, dass die beiden unter keinen Umständen zu Hause wohnen konnten, weil ihre Eltern kürzlich festgestellt hatten, dass ihr Eigenheim vom Antichrist besessen war.
    »Was du nicht sagst.«
    »Nein, wirklich«, setzte Jamie hinzu. »Die Kirche will ihnen zwar einen Exorzisten vorbeischicken, aber das dauert mindestens sechs Wochen, und so werden sie sich wohl nach einem privaten Anbieter umsehen müssen.«
    Keine fünf Minuten später schleppte ich die Doppelmatratze in Dillies Zimmer.
    Dillies Bett war ein Meisterstück kreativer Tischlerkunst. Am Fußende führte eine halbgewendelte Treppe, wie in einem altmodischen Londoner Bus, zu ihrer Schlafkoje hinauf, und in dem Hohlraum darunter verbarg sich ein Rolltop-Schreibtisch mit handbemalten Schubladen und Fächern für Bücher oder Kuscheltiere. In das Kopfbrett waren links und rechts Autolautsprecher eingelassen, die mit einem CD -Radio samt iPod-Dock verkabelt waren. Die Hörbücher, für die diese Konstruktion eigentlich gedacht war, steckten noch in ihren Cellophanhüllen, dafür lag eine Reihe von Musik- CD s auf einem Regal verstreut, das mit einem Becherhalter versehen war, in dem eine Dose Dr. Pepper stand.
    »Wow – was für ein irres Bett!«, rief ich. »Woher hast du denn das?«
    »Du hast es gebaut«, sagte sie anerkennend.
    Ich sah es mir etwas genauer an, strahlend vor Stolz auf mein handwerkliches Geschick. Ich überprüfte die Festigkeit der Verbindungen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Ich schien ein instinktives Gespür für das Design und den Bau von Möbeln zu besitzen, von dem ich bislang nichts geahnt hatte.
    »Und die Wolken an der Decke? Habe ich die etwa auch gemalt?«
    »Nein, das war Mum. Sie hat gesagt, das Zimmer des Jungen aus Kramer gegen Kramer hätte sie auf die Idee gebracht.«
    »Ach ja. Das war ein Dustin-Hoffman-Film, nicht wahr? Ich erinnere mich dunkel. Kommen sie nicht am Schluss wieder zusammen?«
    »Nein – sie lassen sich scheiden.«
    Es war zwar nichts weiter als ein viktorianisches Reihenhaus wie so viele andere in den umliegenden Straßen, aber unsere Familie hatte jedem Zimmer ihren Stempel aufgedrückt. Ich starrte stundenlang auf Maddys Fotos. Ihr Markenzeichen waren aufwendige Digitalcollagen, bestehend aus vielen hundert winzig kleinen Aufnahmen von interessanten Orten oder Personen, die sich zu einem riesigen, unverwechselbaren Gesicht fügten. Es gab immer wieder etwas Neues darin zu entdecken, und der Facettenreichtum dieser großformatigen Porträts war faszinierend. Wenn ich in diesen Spiegel sah, vermochte ich mich durchaus darin zu erkennen, nicht aber die zahllosen Menschen und Motive, aus denen ich mich zusammensetzte. Trotzdem hatte ich nach meiner

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