Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
Vom Netzwerk:
Hopfens, als die goldgelbe Flüssigkeit schäumend in den Abfluss rann. Ich riss die dritte Dose auf. Diese Arbeit machte durstig und erschien mir obendrein reichlich verschwenderisch. Drei Liter Bier in den Ausguss schütten – nicht gerade öko, oder? Aber immer noch vernünftiger, als das ganze Zeug zu trinken.
    Da entdeckte ich Ralphs Visitenkarte am Kühlschrank, und trotz der späten Stunde wählte ich die 141, gefolgt von seiner Handynummer.
    »Hallo, hier ist Ralph«, lautete die Ansage. »Ich bin zurzeit in Venedig. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe dann im neuen Jahr zurück.« Musste er auch noch damit angeben?
    Am Silvesterabend schauten wir uns die bearbeiteten Videos an, und die Kinder waren hin und weg, als sie sahen, wie es früher einmal gewesen war. Dillie holte eine Schachtel mit Fotos, und die beiden erklärten mir, um wen es sich bei der illustren Gesellschaft verwackelter Freunde und Verwandter handelte, wenn sie nicht gerade hinter meinem dicken Daumen verschwanden, der das Objektiv zur Hälfte verdeckte.
    »Das ist Großonkel Simon, Grannys Bruder, der nach Australien ausgewandert ist …«
    »Kein Wunder.«
    »Dad!«
    »Guck mal, wie cool Mum da drauf aussieht!«
    Auf einigen der weniger gelungenen Fotos klebten ovale Sticker. Motiv unscharf. Möglicher Grund: Brennweite war nicht richtig eingestellt. Motiv zu dunkel. Möglicher Grund: Blitz hat versagt. Motiv nicht zu erkennen. Möglicher Grund: Fotograf leidet an einer Amnesie, die mit einem Verlust sämtlicher persönlichen Erinnerungen einhergeht.
    »Wer ist denn das?«, fragte ich, als mein Blick auf das sehr alte Foto einer Frau vor tropischer Kulisse fiel.
    »Das ist Granny Vaughan. Das ist … deine Mum …«
    Ich hielt das verblichene Foto einen Moment lang in der Hand. Sie lächelte mir zu – ein bescheidenes Kennenlernhallo aus einem anderen Universum. Sie trug einen breitkrempigen Hut, ein elegantes Kostüm und umklammerte die Lederhandtasche an ihrem Arm; eine steife Pose vor einem imposanten Gebäude aus der Kolonialzeit. Ich wünschte von Herzen, ich könnte behaupten, auf Anhieb so etwas wie Liebe oder Verbundenheit empfunden zu haben, doch wo Emotion und Sehnsucht hätten sein müssen, war nur ein riesengroßes Vakuum.
    »Alles okay, Dad?«, fragte Dillie.
    »Das ist bestimmt ein komisches Gefühl«, meinte Jamie.
    »Ja – alles in Ordnung. Aber … sie sieht nett aus.«
    »Ja, das war sie auch«, sagte Jamie. »Sie hat uns immer Schokolade und Pfundmünzen geschenkt und gesagt: ›Kein Sterbenswort zu eurem Dad!‹«
    »Was hat sie sonst noch gesagt?«
    Und meine Kinder ließen mich ausnahmsweise einmal länger aufbleiben und erzählten mir lauter Dinge, derer ich mich nicht entsinnen konnte. Wir fanden noch mehr Fotos von meinen Eltern und mir als kleiner Junge, und die beiden brachten mich zum Lachen mit Familiengeschichten aus der guten alten Zeit.
    »Frohes neues Jahr, Dad!«
    »Frohes neues Jahr.«
    Tags darauf fuhr ich mit Jamie und Dillie zu ihrem Großvater ins Krankenhaus. Es machte mich ungeheuer stolz, dass sie so tapfer und erwachsen waren und ihm solche Zuneigung entgegenbrachten, ohne die geringste Scheu, ihre Gefühle zu zeigen. Sein Teint war leicht gelblich, und Kinn und Wangen waren mit weißen Stoppeln übersät, was Dillie jedoch nicht davon abhielt, ihm einen dicken Kuss zu geben. Wie üblich hatte sie ihm eine selbstgemalte Karte mitgebracht, und Jamie lieh seinem Großvater sogar seinen iPod; er hatte seine Musiksammlung gelöscht und ihn mit Hörbüchern bespielt, die er eigenhändig heruntergeladen hatte.
    »Das ist die Wiedergabetaste«, erklärte Jamie. »Und wenn du zum nächsten Kapitel springen möchtest, musst du hier draufdrücken«, fuhr er fort, und obwohl ich bezweifelte, dass sein Großvater die Kraft hatte, sich ein Hörbuch zu Gemüte zu führen, rührte mich der Anblick meines halbwüchsigen Sohnes, der sich solche Mühe gab, zu Tränen.
    »Du bist ein lieber Junge«, sagte mein Vater. Die Kinder erzählten ihm von Weihnachten und berichteten ausführlich, was sie geschenkt bekommen hatten und wo wir überall gewesen waren. Und als es Zeit wurde zu gehen, nahmen sie ihn instinktiv in den Arm und drückten ihn lange und fest.
    »Tschüs, Granddad«, sagte Dillie.
    »Mach’s gut, Schätzchen.«
    »Bis dann, Granddad«, sagte Jamie und beugte sich über ihn.
    »Was für wunderbare Enkelkinder! Danke für den Besuch. Ihr habt doch sicher Wichtigeres zu tun.«
    »Nein«,

Weitere Kostenlose Bücher