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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John O'Farrell
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die mir die Aufmerksamkeit gleich mehrerer Frauen bescherte. Es war der letzte Schultag vor den Osterferien, und ich hatte mich von den jüngeren Lehrern breitschlagen lassen, nach Dienstschluss noch etwas trinken zu gehen. Gewöhnlich hüteten sich meine Kollegen, allzu neugierige Fragen nach meiner Krankheit zu stellen, und taten so, als wäre nichts geschehen. Doch nach ein paar Fläschchen Weißwein kam eine Gruppe von Lehrerinnen schließlich darauf zu sprechen, woran ich mich erinnern könne und woran nicht.
    »Also, ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, warum meine Ehe in die Brüche gegangen ist, und das ist, ehrlich gesagt, ziemlich frustrierend.«
    »Du Armer … Und wie steht es mit deiner Kindheit und so?«
    »Abgesehen von ein paar Einzelheiten kann ich mich weder an meine Eltern noch an meine Jugend oder meine Studienzeit entsinnen.«
    »Vielleicht hast du die Erinnerung daran verdrängt, weil du als Kind missbraucht wurdest?«, gab eine besonders verbissene Chemielehrerin zu bedenken, die in jeder Pause im Lehrerzimmer saß und rührselige Leidensberichte mit Titeln wie Die stummen Tränen von Kind 7 verschlang.
    »Äh – nein, ich glaube kaum.«
    »Doch, ich habe alles darüber gelesen. Das ist so eine Art Selbstschutzmechanismus, damit man sich nicht daran erinnert, dass man als Kind von katholischen Priestern als Sexsklave gehalten oder von den Eltern zur Strafe in den Keller gesperrt wurde und Küchenabfälle aus einem Hundenapf fressen musste …«
    »Ist gut, Jane, es reicht«, sagte Sally, die Englisch unterrichtete. »Ist es nicht eigenartig, keine Vergangenheit zu haben? Da weiß man doch im Grunde gar nicht, wer man ist.«
    »Stimmt. Aber wer von uns weiß schon, wer er wirklich ist – letztlich spielen wir doch alle nur eine Rolle und hoffen, dass die anderen sie uns abkaufen.«
    Über diese profunde Erkenntnis sannen die anderen einen Augenblick nach.
    »Vielleicht warst du ja ein Strichjunge?«
    »Es reicht, Jane!«
    »Mein Freund Gary sagt, streng genommen wäre ich noch Jungfrau, weil ich mich nicht erinnern kann, jemals Sex gehabt zu haben«, scherzte ich. Plötzlich war die Damenrunde wie elektrisiert.
    »Was – du hattest seit deiner Amnesie keinen Sex mehr?«
    »Äh, nein – meine Frau und ich haben uns getrennt.«
    »Und du kannst dich auch an keine andere sexuelle Erfahrung erinnern?«
    »Nein – alles weg!«
    Dieses prickelnde Detail machte mich im Handumdrehen zum begehrenswertesten Mann in ganz Europa. Mit einem Mal waren meine mauen Witzchen brüllend komisch, meine Anekdoten über die Maßen faszinierend, und noch die kleinste Fussel auf meiner Schulter musste umgehend entfernt werden, während mir eine Gruppe quirliger und noch dazu wunderschöner Frauen eine geschlagene Stunde heftigste Avancen machte.
    Sie schenkten mir abwechselnd Wein nach und lauschten gebannt der Geschichte meines einwöchigen Klinikaufenthalts als »Unbekannte Person männlichen Geschlechts«. Ich erzählte ihnen, dass ich mich nicht nur nicht an meine Freunde und Verwandten erinnern konnte, sondern obendrein hatte feststellen müssen, dass meine Ehe in Trümmern und mein Vater im Sterben lag.
    »Ah, komm her – lass dich umarmen«, sagte Jennifer, die auf Spätentwickler mit besonderen Bedürfnissen spezialisiert war, zu denen offenbar auch Mr. Vaughan zählte, denn sie drückte mich so fest an sich und tätschelte mir so lange den Rücken, dass man das kaum noch als aufmunternde Geste bezeichnen konnte.
    »Ja, du musst dringend mal wieder ordentlich geknuddelt werden«, bekräftigte Caroline, die Medienkunde und Dramatisches Gestalten unterrichtete, aber durchaus gewillt schien, womöglich schon heute Abend einen Abstecher in die Erwachsenenbildung zu unternehmen.
    Ich genoss die Streicheleinheiten und die ungeteilte Aufmerksamkeit all dieser Frauen, obwohl mir die ungewohnte Nähe so vieler Vertreterinnen des anderen Geschlechts zugegebenermaßen ein wenig Angst machte.
    »Ich habe auch keinerlei Erinnerung an meine Mutter …«
    Knuddel.
    »Und jetzt, wo mein Vater im Sterben liegt, muss ich zu ihm eine ganz neue Beziehung aufbauen …«
    Knuddel.
    »Und, äh … ich musste mir den gesamten Geschichtsstoff neu draufschaffen, bevor ich ihn mit meiner Elften durchnehmen konnte …«
    Das schien zwar nicht ganz so tragisch, trotzdem herzten und hätschelten sie mich.
    Eine der Damen war so hartnäckig, dass die anderen Frauen ihr schließlich das Feld überließen, und während wir

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