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Der Mann im braunen Anzug

Der Mann im braunen Anzug

Titel: Der Mann im braunen Anzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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einem Sandsack oder irgendeiner anderen tödlichen Waffe – jedenfalls erwartete ich nicht das freundliche Gesicht einer Nachtstewardess zu sehen.
    «Entschuldigen Sie, Miss. Ich glaubte, Sie hätten gerufen.»
    «Nein», sagte ich leichthin, «das ist ein Irrtum.»
    «Es tut mir Leid, Sie gestört zu haben.»
    «Macht nichts», beruhigte ich sie. «Ich konnte nicht schlafen und dachte, mich zu waschen würde mir gut tun.»
    «Es tut mir Leid», wiederholte sie. «Aber auf dem Korridor trieb sich vorhin ein Herr herum, der zu viel getrunken hatte, und wir befürchteten, er könnte eine der Damen belästigen.»
    «Wie schrecklich!», rief ich und machte ein entsetztes Gesicht. «Er kommt doch hoffentlich nicht hier herein?»
    «Ich glaube nicht, Miss. Schließen Sie sich ein und klingeln Sie, wenn Sie etwas hören sollten. Gute Nacht!»
    «Gute Nacht.»
    Ich wartete einen Augenblick, öffnete die Tür und spähte auf beide Seiten des Korridors. Niemand war zu sehen.
    Betrunken! Das war also die Lösung des Rätsels. Meine schauspielerischen Talente hatten sich als unnötig erwiesen.
    Ich zog den Koffer weg und sagte eisig: «Kommen Sie hervor!»
    Keine Antwort. Ich schaute unter die Koje. Mein Eindringling lag bewegungslos und schien zu schlafen. Ich schüttelte ihn leicht, aber er rührte sich nicht.
    Stockbetrunken, dachte ich empört. Was soll ich nur tun?
    Dann sah ich etwas, das mir den Atem nahm. Rote Tropfen sickerten auf den Boden.
    Ich brauchte all meine Kraft, um den Mann in die Mitte der Kabine zu zerren. Das tödliche Weiß des Gesichts zeigte, dass er ohnmächtig war. Der Grund war leicht zu finden. Er hatte einen Stich unter dem linken Schulterblatt, eine hässliche, tiefe Wunde. Rasch zog ich ihm die Jacke aus.
    Bei der Berührung der Wunde mit kaltem Wasser schauderte ihn, dann setzte er sich auf.
    «Bleiben Sie ganz still», bat ich.
    Er gehörte zu der Sorte junger Männer, die nicht nachgeben und sich rasch erholen. Schwankend erhob er sich.
    «Danke, Sie brauchen nichts für mich zu tun.»
    Sein Verhalten war herausfordernd und aggressiv. Keine Spur von Dankbarkeit, nicht einmal die einfachste Form von Höflichkeit.
    «Sie haben eine hässliche Wunde. Ich muss Sie verbinden.»
    «Sie werden nichts Derartiges tun.»
    Er schleuderte mir die Worte ins Gesicht, als ob ich ihn um eine Gnade gebeten hätte. Ich wurde langsam wütend.
    «Ich kann Sie nicht zu Ihren Manieren beglückwünschen», sagte ich kalt.
    «Ich werde Sie jetzt von meiner Gegenwart befreien.»
    Er ging einen Schritt auf die Tür zu, doch er schwankte, und ich musste ihn stützen. Mit einer heftigen Bewegung stieß ich ihn auf das Bett.
    «Seien Sie doch kein Narr», sagte ich unhöflich. «Sie wollen wohl kaum eine Blutspur auf dem ganzen Schiff hinterlassen, oder?»
    Das schien er endlich zu begreifen, denn er verhielt sich ganz still, solange ich seine Wunde behandelte und so gut wie möglich verband.
    «So», meinte ich schließlich. «Das muss für den Augenblick genügen. Sind Sie nun in besserer Laune und geruhen mir jetzt zu erklären, was das alles bedeuten soll?»
    «Es tut mir Leid, aber ich kann Ihre sehr natürliche Neugier nicht stillen.»
    «Warum nicht?», fragte ich verärgert.
    Er lächelte höhnisch.
    «Wenn man etwas der ganzen Welt kundtun will, braucht man es nur einer Frau zu erzählen. Wenn nicht, ist es besser zu schweigen.»
    «Sie glauben also nicht, dass ich ein Geheimnis bewahren könnte?»
    «Von glauben ist keine Rede, ich bin dessen sicher.»
    Er erhob sich.
    «Nun, jedenfalls habe ich einiges über die Ereignisse der heutigen Nacht zu erzählen», erwiderte ich boshaft.
    «Und zweifellos werden Sie das tun.»
    Wir starrten einander zornig an, wie die erbittertsten Feinde. Erst jetzt nahm ich Einzelheiten seiner Erscheinung auf: Das kurzgeschorene dunkle Haar, das eckige Kinn, die Narbe auf der braunen Wange und die hellgrauen Augen, die mich so spöttisch ansahen. Etwas Gefährliches ging von diesem Mann aus.
    «Sie haben mir noch gar nicht dafür gedankt, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe», sagte ich süß lächelnd.
    Das traf ihn endlich. Er wich zurück, und ich fühlte instinktiv, dass ihn nichts so sehr verdross, wie daran erinnert zu werden, dass er mir sein Leben verdankte. Mich ließ das kalt; ich wollte ihn verletzen, so tief verletzen wie nie einen Menschen zuvor.
    «Ich wünschte, Sie hätten es nicht getan!», rief er. «Ich wünschte, ich wäre tot und aus der ganzen Sache

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