Der Mann mit dem Fagott
kleineren, Andrej, der bald vier wird. Mein Onkel Werner, der Vater der beiden, ist irgendwo bei Danzig verschollen. Sie haben auch schon lange nichts mehr von ihm gehört. Fast so wie wir von unserem Papi.
Joe erklärt dem Kleinen so ungefähr, wie Bomben und Granaten funktionieren, und Mischa lauscht begeistert und stellt immer neue Fragen.
Normalerweise ist er eher ruhig. Er scheint irgendwie in seiner eigenen Welt zu leben. Manchmal wirkt er so, als kenne er ein ganz besonderes Geheimnis und lebe still damit, so ähnlich hat meine Mutter das mal zu seiner Mutter Rita gesagt, und ich fand es sehr schön.
Er ist pausbäckig, hat ganz dunkle Haare und dunkle große Augen, die einen immer so seltsam mustern. Außerdem sieht er immer ein bißchen so aus, als würde er über etwas ganz Wichtiges nachdenken. Er hat seltsame Schienen an den Beinen, weil irgendwas mit seinen Muskeln oder Knochen nicht ganz in Ordnung ist, aber das wird sich auswachsen. Er muß die Dinger nur ein paar Monate tragen, sagt Tante Rita. Ich glaube, er schämt sich deswegen, und viele von den anderen Kindern aus dem Dorf verspotten ihn deshalb. Seit das mit dem Verspotten losging, trägt er lange Hosen, was komisch aussieht bei einem so kleinen Jungen, aber die anderen treten seither erst recht gegen seine Beine und sagen dann: »Du hast ja ein Holzbein! Du bist ein Kriegskrüppel!« Dann weint er und fragt seine Mutter, wie er den anderen erklären soll, daß er doch gar kein Holzbein habe.
Er redet jetzt schon seit einer Ewigkeit mit Joe über die Bomben
und Granaten und Patronen. Und er erzählt uns, daß er im letzten Jahr, als sein Vater auf Heimaturlaub war und sie alle zum Timmendorfer Strand gefahren sind, nachts gesehen hat, wie Hamburg gebrannt hat.
»Der ganze Nachthimmel war damals feuerrot!« erzählt er mit glänzenden Augen. Er fand das wunderschön, aber die Erwachsenen haben geweint, und er hat zuerst gar nicht begriffen, warum, wo sie doch etwas so Wunderschönes zu sehen bekamen.
Joe versucht, ihm zu erklären, daß, wenn Hamburg brennt, ja viele Menschen ihre Häuser verlieren, verletzt werden oder sterben. Und er sagt ihm, daß solche Bomben, Granaten und Patronen sehr gefährlich sind. Wenn man eine findet, darf man sie auf keinen Fall anfassen, weil sie sonst explodiert, und das kann einen töten oder zumindest schwer verwunden. Mischa sagt, das hätte ihm Onkel Gert auch schon gesagt.
Ich höre nur noch halb zu, weil mich der Löwe an der Wand über dem Kamin gerade eigentlich viel mehr interessiert. Es ist der Löwe, den Onkel Gert in Afrika geschossen hat. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Bild von ihm mit einem großen Hut und Stiefeln und einem Gewehr, und er stellt darauf gerade seinen Fuß auf den Kopf des toten Löwen. Onkel Gert sieht auf dem Bild aus wie ein Star aus einem der Filme, die ich von den Broschüren kenne, die meine Eltern früher immer aus dem Kino mitgebracht haben. Ein bißchen so wie Willy Birgl oder Viktor de Kowa. Er ist von allen fünf Brüdern sicher der schönste. Und daß er einen Löwen getötet hat, macht auf die Frauen bestimmt einen ganz besonderen Eindruck.
Weil mein Tee kalt geworden ist und mir sowieso, weil er so bitter ist, nicht besonders schmeckt, stehe ich auf und schaue mir den Löwen aus der Nähe an.
»Gefällt er dir?« höre ich plötzlich die Stimme von Onkel Gert hinter mir. Ich spüre, wie ich ganz rot im Gesicht werde und drehe mich nur halb um, kann nur »mhm« murmeln.
»Möchtest du mal seine Mähne fühlen?«
Ich nicke, und er hebt mich hoch, läßt sie mich streicheln.
»Bestimmt geht jetzt ein bißchen etwas von der Kraft eines Löwen auf dich über«, erklärt er mir mit ganz ernsthafter Stimme und einem Lächeln im Gesicht.
»Das kann ich mir nicht vorstellen!« Bestimmt verschaukelt er mich nur.
Er stellt mich wieder auf den Boden. »Im Ernst: Man erzählt, daß jeder, der einen Löwen berührt, ein bißchen etwas von seiner unglaublichen Kraft übernimmt. Und noch mehr Kraft bekommt man, wenn man einen Löwen tötet.«
Ich staune. »Dann hast du die Kraft des Löwen bekommen?«
Onkel Gert lacht und setzt sich mit mir aufs Sofa. »Ja, ein bißchen … Weißt du, ich hab ja als Kind und als junger Mann stark gestottert, und ich war auch sonst immer ein bißchen ängstlich, und dein Großvater hat sich überlegt, wie man aus mir einen ›richtigen Mann‹ machen könnte. Und weil ich ja sowieso Landwirtschaft lernen wollte, um Barendorf
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