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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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zusammen.
    »Förner!« ruft der Wärter.

10. KAPITEL
    Barendorf, März bis Mai 1945

Der »Löwentöter«
    Die große Uhr im Salon des Barendorfer Herrenhauses schlägt 4 Uhr nachmittags. Alle, die es irgendwie einrichten können, haben sich einen Platz auf dem Sofa, den herbeigeschafften Stühlen gesucht oder stehen irgendwo im Zimmer herum. »Teestunde« ist eine tägliche Barendorfer Tradition, die ich zwar meistens ein bißchen langweilig finde, aber sie hat auch etwas herrlich Geheimnisvolles. Manchmal werden dabei die alten Geschichten erzählt. Von Rußland und der Flucht und wie Großvater Heinrich dann viele Jahre später Barendorf gekauft hat.
    Großvater Heinrich ist vor ein paar Wochen gestorben. Onkel Erwin hat es uns erzählt. Alle waren ziemlich traurig, auch die schwarze Omi hat geweint. Ich selbst kann mir noch gar nicht richtig vorstellen, daß Opa tot ist. Ich hab mich so darauf gefreut, mit ihm Wasserflugzeug zu fliegen und ihn über Rußland auszufragen und die Geschichte vom Mann mit dem Fagott von ihm selbst erzählt zu bekommen … Irgendwie erzählt sie in unserer Familie jeder ein bißchen anders, und ich hätte so gern gewußt, welche denn nun die richtige ist.
    Plätschernd wird Tee in unsere Tassen gegossen. Er ist dünn und wird immer mehrmals aufgebrüht, weil es schon kaum mehr irgendwo Tee zu kaufen gibt, aber die schwarze Omi will auf keinen Fall, daß die Tradition aufgegeben wird.
    »Seit meiner Kindheit gab es keinen Tag, an dem nicht um vier Uhr nachmittags Tee getrunken wurde, ob in Rußland, Schweden
oder Deutschland. Sogar auf der Flucht haben wir das organisiert. Was ist schon so ein blöder Krieg gegen unsere Teestunde!« verkündet sie resolut.
    Irgendwie ist es ein bißchen seltsam, hier zu sitzen und Tee zu trinken, während man aus den Wäldern die Schießereien schon ziemlich laut und nahe hören kann. Wir Kinder sitzen an einem provisorischen Kindertisch und trinken aus ganz normalen Tassen, während die Erwachsenen das Silberservice aus Rußland benutzen, das Opa und die schwarze Omi damals nach Schweden geschmuggelt haben. Darauf ist die schwarze Omi immer noch ein bißchen stolz. Und wenn es draußen besonders laut kracht, während hier drinnen mit Silberlöffeln im Tee gerührt wird, lacht die schwarze Omi manchmal spitzbübisch und sagt: »Vornehm geht die Welt zugrunde.«
    Sie hat es kaum ausgesprochen, als eine extrem laute Detonation aus dem Wald zu hören ist. »Bum, bum«, sagt mein kleiner, noch nicht ganz zweijähriger Bruder Manfred und strahlt begeistert über das ganze Gesicht.
    Bei diesen Teestunden wird aber auch jeden Tag beraten, wie wir alle uns verhalten sollen, wenn die kämpfende Front uns erreicht hat. Besonders wir Kinder bekommen strenge Anweisungen: Wir sollen nicht aus dem Haus gehen, ohne Bescheid zu sagen, wo wir sind. Wenn die Soldaten kommen, sollen wir uns ruhig verhalten, den Erwachsenen unbedingt gehorchen und all so was. Wir nicken immer brav, aber natürlich wissen die Erwachsenen immer noch nichts von unserem Bunkersystem, und wir werden es ihnen auch nicht sagen.
    Meine Mutter ist heute nicht dabei. Sie mußte schon wieder nach Lüneburg zur Gestapo, sie erzählt uns nicht, was sie denn immer so Wichtiges von ihr wissen wollen. Sicher hat es mit Papi zu tun. Nun ist er schon fast sieben Wochen weg.
    »Hast du schon einmal eine echte Granate gesehen?« will mein kleiner Cousin Mischa plötzlich von mir wissen und sieht mich mit großen Augen neugierig an.
    »Ja, einmal, aber nicht ganz aus der Nähe«, antworte ich und erzähle ihm von dem abgeschossenen Flugzeug, das wir in Kärnten gesehen haben und von den Bomben, die noch an Bord waren.
    Das ganze Thema scheint ihn brennend zu interessieren.

    »Wie ist so eine Bombe gebaut? Wieso fliegt sie mit dem Sprengkopf nach unten?« Er kann gar nicht genug bekommen von diesen Fragen. Joe beantwortet sie mit einer Engelsgeduld, die ich so gar nicht von ihm kenne. Wenn ich ihn etwas frage, nennt er mich oft einfach »Blödmann« und antwortet so knapp, daß ich auch nicht mehr verstehe als vorher. Vielleicht liegt es einfach daran, daß Mischa soviel jünger ist und deshalb vieles noch nicht wissen kann. Oder daran, daß er Joe ganz offensichtlich ein bißchen anhimmelt. Kein Wunder: Joe ist ja auch schon dreizehn Jahre alt, und er kann und weiß so vieles. Das ist für Mischa, der gerade sechs geworden ist, natürlich mächtig interessant. Er selbst hat keinen großen Bruder, nur einen

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