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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. Wir kennen ihn vom Sehen. Er reckt den rechten Arm nach oben, schlägt die Hacken zusammen. »Heil Hitler!«
    »Hallo Karsten, was willst du denn mit dem Gewehr?« Meine Mutter bittet ihn gar nicht erst herein.
    »Ähm … Ich …«, Karsten braucht einen Moment, um sich zu fassen, dann spricht er wieder ganz militärisch weiter: »Also, ich bin gekommen, um Ihren Sohn Joe abzuholen.«
    Beim Sprechen wackelt der viel zu große Helm auf seinem Kopf herum, so daß Karsten ihn mit der Hand festhalten muß.
    »Was heißt hier ›abholen‹?« Die Stimme meiner Mutter wird immer strenger.
    »Zum Volkssturm. Alle HJ-Jungen ab dreizehn müssen sich freiwillig melden und werden an der Panzerfaust ausgebildet, um Barendorf vor dem Feind zu schützen.«
    Joe zeigt keine Regung. Ich merke erst jetzt, daß ich mich schon seit einer Weile fest an seine Hand klammere.
    »Wenn ihr meinen Jungen abholen wollt, mußt du zuerst mich erschießen«, sagt unsere Mutter ganz entschlossen und sieht Karsten direkt in die Augen. Und bevor er etwas sagen kann, setzt sie noch nach: »Und du solltest auch nach Hause gehen, dieses blöde Gewehr wegwerfen und mit diesem ganzen Quatsch aufhören.«

    Karsten sieht sie nur verdutzt an.
    »Komm, Junge, mach dich nicht unglücklich, geh nach Hause, bald ist sowieso alles vorbei«, sagt sie ein bißchen versöhnlicher, und Karsten geht ratlos weg und vergißt sogar seinen Hitlergruß.
    »Joe, du gehst in der nächsten Zeit nicht mehr vor die Tür, auch nicht in die Schule oder sonstwohin. Und wenn irgendwelche Fremden ins Haus kommen, verschwindest du im Keller und versteckst dich hinter dem Kohlenhaufen«, erklärt sie meinem Bruder mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, und er nickt nur und verschwindet in unserem Zimmer.

»Tausend Panzer«
    18. April 1945. Die Schule ist wieder ausgefallen, wie so oft in letzter Zeit. Vor allem, seit vor kurzem Lüneburg von Bombern angegriffen wurde. Es gab viele Tote und Verletzte. Selbst bei uns in Barendorf hat das ganze Haus gewackelt, und Mami hat uns aus den Betten geholt und ist mit uns in den Keller gelaufen. Dort saßen wir dann todmüde und haben gewartet, aber es ist zum Glück nichts passiert, und wir sind alle wieder schlafen gegangen. Aber unser Lehrer wurde ausgebombt, und seither gibt es nur noch manchmal Unterricht.
    Es ist ein ungewöhnlich schöner Frühlingstag. Die Sonne verzaubert die geheimnisumwitterte hundertjährige Buche im Park des Barendorfer Herrenhauses, die mit ihren hängenden Ästen so eine herrliche Höhle, eine Art grünes, magisches Tor bildet, und taucht den Waldrand direkt an der Grenze des Gutes in ein mildes, friedliches Licht. Überall blüht es bereits, und es duftet nach dem ersten gemähten Gras des Jahres. Leider muß Joe im Haus bleiben. Wir haben vorhin ein bißchen Tischtennis gespielt, aber dabei verliere ich immer, und er spielt jetzt mit einem Freund, der ihm ein besserer Gegner ist. Eigentlich spiele ich jetzt gerade mit Mischa und Andrej Verstecken, aber ich kann sie schon lange nicht
mehr finden. Bestimmt sind sie in die Bunker gegangen, obwohl das beim Versteckspielen unfair und deshalb verboten ist, so haben wir’s abgemacht. Ich suche sie zwar noch, aber nur noch halbherzig und habe keine Lust mehr an dem Spiel. Eigentlich bin ich ja schon viel zu groß dafür, aber die beiden spielen es eben gern.
    Aus dem Wald die immer gleichen Geräusche, die wir seit Wochen kennen. Der Lärm scheucht die Vögel auf, und von ihrem Gesang hört man natürlich sowieso nichts mehr. Er wird von all dem Kriegslärm inzwischen völlig übertönt.
    Eigentlich ist also alles ganz normal, denke ich mir, aber ich werde trotzdem das Gefühl nicht ganz los, daß irgendetwas heute nicht stimmt. Die Geräusche sind anders als sonst. Vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil heute ansonsten so ein ruhiger und friedlicher Tag ist, und ich hab ja in den letzten Wochen schon oft geglaubt, daß sie nun schon ganz nah sind und jede Minute bei uns vor der Tür stehen. Vor allem, wenn sie Lüneburg bombardiert haben. Aber dann ist immer nichts passiert, und ich frage mich manchmal, ob es nicht sein kann, daß sie vielleicht einfach an Barendorf vorbeifahren, weil es ja so ein winziger Ort ist. Vielleicht fahren sie vorbei und erobern nur die größeren Städte, und dann erklären sie irgendwann einfach, daß der Krieg vorbei ist, und dann beginnt irgendetwas ganz Neues.
    Die Erwachsenen haben

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