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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Wasserhahn an der Wand und gießt ihm ein Glas voll ein. Er stellt es auf seinen Schreibtisch, schlürft weiter seinen Kaffee, blättert in seinen Akten herum. Jemand tritt ein, gibt ihm einen Zettel, verläßt den Raum wieder. Brettschneider scheint das Papier zu studieren.
    Als Rudi gerade nach dem Wasser greifen will, hört er Brettschneiders Stimme: »Heinrich Bockelmann, geboren in Osternburg-Bremen am 28. Mai 1870. Ist das Ihr Vater?«
    Rudi nickt. »Jawohl.«
    »Der Mann, der Bankier in Rußland war und seinen letzten Wohnsitz in Meran hatte?«
    Rudi stutzt. Wieso » hatte «? Ihn beschleicht eine üble Ahnung, doch er will sie nicht wahrhaben.
    »Soviel ich weiß, wohnt mein Vater immer noch in Meran«, antwortet er in etwas verunsichertem Tonfall.
    Beiläufig, als würde er Rudi fragen, ob das Wasser ihm schmecke, meint Brettschneider mit einer Geste auf das Papier in seiner Hand: »Ach, übrigens, Sie sind offenbar noch nicht informiert: Ihr Vater ist letzte Woche gestorben.«
    Der Satz trifft Rudi härter als der Schlag, den er vorhin hatte einstecken müssen. Worte, die in ihrem gleichgültigen Tonfall tief in seine ohnehin schon schwer verwundete Seele dringen. Warum? Der pochende, sinnlose Gedanke in seinem Kopf. Das innere Aufbegehren gegen das Schicksal, das ihm seinen Vater ausgerechnet jetzt entreißt, ausgerechnet in diesen Wochen, in denen er jeden Halt, jede Zuversicht soviel dringender braucht als je zuvor. Als
hätte das Schicksal darauf Rücksicht zu nehmen, in welcher Verfassung ein Mensch sich befindet, ehe es zuschlägt. Er fühlt Wut auf das Schicksal, das Leben, das sich so schmerzlich gegen ihn verschworen hat.
    Und immer wieder der Gedanke an das letzte Telefongespräch. Es ist erst ein paar Wochen her. Es war auf der Fahrt nach Berlin. Es hatte gutgetan, seine Stimme zu hören. Heinrich war zwar ein wenig kurzatmig gewesen, aber sonst schien es ihm doch gutzugehen. Er war jedenfalls guter Dinge, sprach von einem Wiedersehen.
    Tausend Erinnerungen in Rudis Kopf. Kindheitsgeschichten. Das Wiedersehen, als Heinrich damals aus Rußland nach Schweden geflüchtet war, die Geste, mit der er die Kinder den Uhrdeckel aufpusten ließ. Seine Stimme, sein Lachen, sein Gang.
    Und der Gedanke, wie schrecklich es für Heinrich gewesen sein mußte, in diesen Stunden Abschied von der Welt zu nehmen, ahnungslos, ob der Krieg je zu Ende gehen würde und wie. Den jüngsten Sohn verschollen zu wissen, den Zweitältesten im Gefängnis, die Welt am Zerbrechen …
    Rudi ringt um seine Selbstbeherrschung. Immerhin ist er immer noch beim Verhör. Am liebsten würde er weinen, fluchen, mit dem Schicksal hadern, aber er muß um seine Fassung kämpfen, und um sein nacktes Leben, dabei möchte er nur mit irgend jemandem sprechen. Wenn es nicht anders ging, zur Not auch mit Brettschneider, aber das war natürlich undenkbar. So viel Menschlichkeit trug der nicht in sich.
    »Wie ist er denn gestorben?« Rudi findet seine Sprache wieder und wagt eine Frage ohne Unterwürfigkeit.
    »Bin ich ein Auskunftsbüro?« herrscht Brettschneider ihn an und läßt dann den Brief, den man ihm ins Zimmer gereicht hatte, auf Rudis Seite des Schreibtischs fallen. »Hier, lesen Sie von mir aus selbst!«
    Rudi greift nach dem Stück Papier. Es trägt Erwins Schrift. Gerade als er beginnen will zu lesen, ertönen die Sirenen. Keine Vorwarnung, gleich Alarm. Brettschneider rennt aus dem Zimmer, ruft einem seiner Polizisten irgendetwas zu. Rudi soll wieder ins Gefängnis gebracht werden. Im Laufschritt geht es durch die leergefegten Straßen, durch die langen Gänge des Gefängnisses, die
Treppen in den obersten Stock hinauf und in die Zelle. Der Wärter entfernt sich eilig.
    »Was haben sie denn mit dir gemacht?« Förner meint offensichtlich Rudis gesprungene Lippe. Rudi hatte schon kaum noch daran gedacht.
    »Ach nichts.« Er möchte jetzt nicht darüber reden.
    Schon donnern die Flugzeuge näher. Die anderen legen sich hin. Rudi tut es ihnen gleich. Plötzlich kann er sich für diesen Augenblick nichts Besseres vorstellen, als seine Ruhe zu haben, auf seinem Strohsack zu liegen, Erwins Brief zu lesen, seinen Gedanken nachzugehen, zu trauern, und wenn’s sein muß - zu sterben. Seltsamerweise fühlt er nicht einmal Angst. Er hört die sich unaufhörlich nähernden Bomberverbände, die schreienden Sirenen, und er fühlt gar nichts dabei. Eine unbegreifliche Normalität des Grauens. Er hat keine Kraft mehr für Angst oder Wut, die doch

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