Der Mann mit dem Fagott
immer wieder darüber beraten, wann der beste Zeitpunkt sei, die weißen Fahnen, also weiße Bettlaken und so was aus den Fenstern zu hängen, aber sie hatten immer Angst, das zu früh zu tun und Ärger mit der Gestapo zu bekommen. Deshalb haben wir nur alles für den Ernstfall vorbereitet, damit wir dann ganz schnell handeln können.
Ich sehe mich wirklich ganz genau um, aber ich kann einfach nichts Verdächtiges entdecken. Ich bin jetzt schon fast an der Grenze unserer Felder, und eigentlich darf ich sie nicht überschreiten, ohne den Erwachsenen Bescheid gesagt zu haben. Der Lärm der Motoren und Ketten wird unerträglich laut, und ich bekomme es mit der Angst zu tun.
»Mischa, Andrej, machen wir Schluß, wir sollten abhauen!« rufe ich so laut ich kann, weil ich spüre, daß gleich etwas passieren wird.
Plötzlich, wie auf Kommando, fangen die Sträucher, Hecken
und kleinen Bäume am Waldesrand an zu schwanken und zu schaukeln. Es knackt und knirscht und rasselt und dröhnt, und soweit mein Auge reicht, bricht eine ganze Front von Panzern gleichzeitig aus dem Wald und fährt, alles niederwalzend, direkt auf unser Haus zu.
Sie sind riesig, viel, viel größer als ich mir das jemals vorgestellt habe: fast so groß wie ein Haus. Sie sind mächtig und furchteinflößend und schrecklich laut, und der Anblick übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe, und ich bekomme schreckliche Angst und renne so schnell ich kann und schreie immer wieder: »Maaaaamiiiiii! Da kommen tausend Panzer aus dem Wald!«
Das »Schokoladengefühl« vom Frieden
»Maamii! Da kommen tausend Panzer aus dem Wald!« Ich bin ganz außer Atem, als ich das Haus erreiche. Mischa und Andrej stehen hinter meiner Mutter. Zum Glück, sie sind also in Sicherheit. Drinnen herrscht schon undurchschaubare Hektik. Die Frauen sind dabei, Laken aus den Fenstern zu hängen.
Auch meine Mutter hat weiße Tücher in ihren Händen. »Ja, mein Junge, wir haben dich gehört!« Sie drückt mir ein paar von den Tüchern in die Hände. »Da, häng die noch schnell auf der Parkseite aus den Fenstern, binde sie am Rahmen fest, dann nimm den kleinen Koffer, den wir gepackt und unter das Bett gestellt haben und renn in den Keller!«
Schon hat sie sich umgedreht und ist dabei, irgendetwas zu organisieren.
Inzwischen hört man die Panzer ganz laut und deutlich sich unserem Haus nähern. Sie kommen nicht nur aus dem Wald, sondern scheinbar von allen Seiten. Offenbar auch über die Straße, die Richtung Dahlenburg führt. Die Panzerketten klingen auf dem Asphalt noch viel lauter, direkter, quietschender.
Eine endlos lange Maschinengewehrsalve aus Richtung Dahlenburger Straße.
»Mensch, dort sitzen doch die Jungs vom Volkssturm, zu denen auch Joe hätte geholt werden sollen!« Tante Rita wird ganz blaß.
Joe, der von irgendwoher aus dem Haus kommend plötzlich neben mir steht, die Hände ebenfalls voll mit weißem Stoff, nickt. »Meinst du, die Salve ging in den Schützengraben, in dem Karsten und die Jungs mit der Panzerfaust sitzen?«
Rita sieht ihn entsetzt an. »Um Gottes willen, hoffentlich nicht!«
Wir können uns jetzt nicht darum kümmern. Ich bin mit meinen Tüchern fertig, hole meinen Koffer und renne in den Keller zu den anderen. Immer noch mehr von uns Bewohnern drängt sich im Raum. Auch ein paar Flüchtlinge, die wie wir hier Schutz suchen. Als letzte kommt meine Mutter mit Tante Rita. Onkel Gert ist heute nicht da. Er hat irgendwas in Lüneburg zu tun und verpaßt mal wieder das Wichtigste.
Manche der Frauen schluchzen oder stöhnen unaufhörlich »Mein Gott, was wird nur werden!« Die kleineren Kinder schreien aufgeregt durcheinander. Joe ist ganz still, und ich würde wirklich gern wissen, was jetzt in seinem Kopf vorgeht. Manfred lacht wie immer und freut sich über das bunte Treiben.
»Ruhe jetzt!« ergreift meine Mutter das Wort. Sie sagt es nicht einmal besonders laut, aber wie immer, wenn sie etwas sagt, hören alle zu.
»Das wichtigste ist jetzt, daß wir Ruhe bewahren. Wir wußten, was kommen würde, und wir werden das Beste aus der Situation machen. Wir werden kooperieren und die Soldaten so freundlich wie möglich empfangen und uns unter ihren Schutz und Befehl stellen. Keine Diskussionen, kein Geheul, ich will nichts hören! Wir warten jetzt hier, bis sie uns finden. Diese Soldaten haben vor allem vor einem Angst: jetzt, in diesen letzten Stunden des Krieges, noch erschossen zu werden. Wenn sie irgendetwas sehen oder hören, was sie
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