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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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sei.
    Jedenfalls haben Rita und meine Mutter heftig mit den Soldaten diskutiert und geschworen, daß sie das alles nicht gewußt hätten,
und die Soldaten haben gesagt, wir alle hätten uns mitschuldig gemacht, weil wir nichts dagegen unternommen und uns gegen das alles nicht aufgelehnt hätten. Und meine Mutter und Tante Rita haben gesagt, daß sie das anders sehen, aber wie dem auch sei, es seien Kinder im Haus, und die könnten ja schließlich ganz bestimmt nichts dafür, und dann haben sie die Photos wieder abgenommen.
    Was mit Papi ist, wissen wir immer noch nicht. Es versinkt alles in einem unbeschreiblichen Chaos.
    Und wahrscheinlich hat auch nur deswegen keiner gemerkt, daß wir Kinder uns immer wieder in der Dunkelheit zuerst durch unser Bunkersystem und dann durch das Dickicht im Wald an das Basislager der Soldaten im Wald herangeschlichen haben, unter dem Zaun durchgeklettert sind, der das Lager umgab, von hinten in das Versorgungszelt gekrochen sind, das im Gegensatz zu den Wohnzelten unbeleuchtet und schon daran gut erkennbar war und dort alles das »organisiert« haben, was wir gebraucht haben: Decken, Taschenlampen, vor allem aber Nahrungsmittel, Corned Beef, getrockneten Schinken, Cornflakes, Dosenwurst, Brot, Coca Cola, Süßigkeiten und all so was, außerdem natürlich Zigaretten; die meisten davon haben wir unserer Mutter gegeben. Wir hätten auch Kleidung oder Munition oder Schlafsäcke mitnehmen können, aber das haben wir uns nicht getraut. Fast alles bekommt man in diesen Tagen nur, wenn man es irgendwie »organisiert«. Wie wir das machen, sagen wir keinem, und es fragt uns auch keiner. Nur daß wir »vorsichtig« sein sollen, schärft man uns immer wieder ein. Daß wir uns in die Zelte der Soldaten geschlichen haben, ahnt sicher niemand.
    Diese nächtlichen Beutezüge waren natürlich riskant, weil die Soldaten sicher nicht gezögert hätten zu schießen, wenn sie gemerkt hätten, daß sich jemand in ihrem Lager herumtreibt. Im Nachbardorf sind zwei Jungs beim »Organisieren« erschossen worden, weil die Soldaten in der Dunkelheit einfach nicht rechtzeitig gesehen haben, daß es nur Kinder waren. Aber wir haben trotz des Risikos nicht darauf verzichten wollen. Die Besatzer haben unsere Nahrungsmittel viel strenger kontrolliert und noch viel knauseriger zugeteilt als die deutschen Behörden im Krieg, und ohne diese Sonderrationen wäre es wirklich schwer geworden, uns alle satt zu bekommen.
    Manchmal sind wir auch einfach nur in den Wald gegangen und
haben nach brauchbaren Dingen gesucht und vieles gefunden. Deutsche Soldaten haben dort ganze Uniformen weggeworfen, wohl um sich nicht als deutsche Soldaten bei den Besatzern zu erkennen geben zu müssen, aber auch Lebensmittel, Soldbücher, Waffen, Munition, eine kaputte Uhr und dergleichen mehr. Wir haben alles gesammelt, zum Teil in unseren Bunkern versteckt, zum Teil zu Hause abgeliefert, und wir mußten nur aufpassen, daß die Offiziere, die bei uns einquartiert waren, nichts von all diesem »Organisieren« merken.
    Heute haben wir gehört, daß am Timeloberg bei Lüneburg, beim Hauptquartier General Montgomerys irgendein wichtiges Ereignis stattfinden soll. Man sagt, daß der berühmte englische General, den alle meistens nur »Monty« nennen, stellvertretend für General Eisenhower die Kapitulation von Norddeutschland oder sogar vom ganzen Reich entgegennehmen soll, so genau wissen wir das nicht. Irgendwelche deutschen Generäle sollen schon gestern dortgewesen sein und verhandelt haben. Tante Rita meint, die deutschen Soldaten wollen sich lieber den Briten oder Amerikanern ergeben als den Russen in die Hände zu fallen. Montgomery hat schon seit ein paar Tagen sein Hauptquartier in der Lüneburger Heide, und einer unserer Freunde hat gesagt, er habe ihn dort sogar schon gesehen, er wohne in einem großen Wohnwagen.
    Vor ein paar Tagen soll von versprengten deutschen Soldaten ein Adjutant von Montgomery mit einem Bajonett erstochen worden sein. Angeblich war das ein ganz enger Freund, fast schon so was wie ein Sohn für den General, und nachdem ja schon seine Frau gestorben ist, hat ihn der Tod des Adjutanten, wie man hört, ganz verzweifelt und wütend gemacht, und man sagt, daß die deutschen Generäle, die jetzt mit ihm verhandeln, das ganz deutlich zu spüren bekommen hätten.
    Jedenfalls soll es ein großer Tag sein, und wir haben schon überlegt, ob wir unsere Fahrräder nehmen und einfach hinfahren sollen, aber unsere Mutter hat uns

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