Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
Vom Netzwerk:
halten kurz inne. Plötzlich fängt einer an, mit der Mistgabel Stroh und Dreck vom Boden aufzusammeln.
    »Friß das, du Feigling!«
    »Nein!« Der Mann wehrt sich mit dem Rest seiner Kraft, versucht verzweifelt, den Kopf zur Seite zu drehen. Einer der Belgier dreht ihn gewaltsam wieder nach vorn, drückt ihm den Mund auf, ein anderer schiebt ihm mit einem Stock das Stroh tief in den Rachen. Der Mann würgt, dann hört man kaum noch etwas von ihm.
    Die Soldaten grölen. Einer lacht sogar. Sie lassen wieder ihre Schnapsflasche herumgehen, gießen auch dem Gefangenen etwas davon über das Gesicht. Er stöhnt. Dann gehen die Belgier ein Stück zurück, und ich denke schon, daß sie jetzt auch finden, daß es genug sei und ihn freilassen, aber sie nehmen nur ihre Gewehre, legen an.
    Der Mann wimmert ein letztes Mal mit weit aufgerissenen Augen »Nein!« Man kann es wegen des Strohs in seinem Mund fast nicht hören. Er starrt mit einer nackten Angst, die ich noch an keinem Menschen je gesehen habe, in die Gewehrläufe. Einer der Soldaten zählt auf französisch bis drei, dann schießen sie alle. Ein Aufbäumen geht durch den Körper, dann sinkt der Mann nach vorn, hängt nur noch in den Armfesseln. Einer der Belgier nimmt sein Taschenmesser und schneidet ihn los. Keiner hält ihn, der schwere Körper fällt einfach zu Boden. Einer gibt ihm sogar noch einen Tritt, spuckt aus, dann gehen sie weg. Wie von Teufeln gehetzt rennen Joe und ich ins Haus.
    Am Abend kommt Onkel Werner. Zu Fuß und ganz überraschend. Er hat sich irgendwie durchgeschlagen. Aus dem Danziger Kessel kam er nur raus, indem er sich Zivilkleidung angezogen und den Russen auf Russisch zugerufen hat, es sei alles in Ordnung. Mit diesem unglaublichen Trick hat man ihn nicht als Deutschen erkannt, und so ließen sie ihn ziehen, ohne mißtrauisch zu werden. So ist er nicht in die ihm sonst sichere russische Kriegsgefangenschaft geraten. Er sagt, Russisch zu können, hat ihm das Leben gerettet, und ich frage mich, ob unserem Vater das auch nützen wird, zu Hause, in Kärnten, an der jugoslawischen Grenze. Ein bißchen
bin ich neidisch auf Andrej und Mischa, die ihren Papi jetzt wiederhaben, und ich merke, daß auch Joe sehr nachdenklich ist.
    Onkel Werner erinnert mich in so vielem an meinen Vater. Sie sehen sich ähnlich, haben sogar fast die gleiche Stimme, die gleiche Art zu sprechen mit ihrem leicht russischen Klang.
    Über die Folterung haben wir abends mit den Erwachsenen lange gesprochen, und Rita hat gemeint, daß man das dem lokalen Kommandeur melden müsse. Sie will das am nächsten Tag auch tun, aber daß es viel nützen oder Folgen für die Täter haben wird, bezweifeln alle.
    Die schwarze Omi scheint diese neue Zeit und das, was um uns herum passiert, noch weniger zu verstehen als alle anderen. Sie ist sehr schweigsam und nachdenklich geworden in den Monaten, seit wir alle hier sind. Irgendwie scheint sie sich an ihren vertrauten Zeremonien aus Rußland festzuhalten, an der Teestunde, an der Art, wie wir vor ein paar Wochen Ostern gefeiert haben mit der typischen russischen Osterspeise aus Quark. Aber wenn man sie etwas zu den neuen Ereignissen fragt, sagt sie immer nur Sachen wie »Schrecklich!« und »Wohin soll das führen!« und ähnliches. Ich glaube, sie leidet unter diesen Zuständen am meisten von uns allen.
    Nachts wird es noch empfindlich kalt, und seit ein paar Tagen funktionieren weder Heizung noch Strom, und auch das Wasser scheint irgend jemand abgestellt zu haben. Das Leben ist sehr mühsam geworden. Mit Schokolade hat der Frieden schon lange nichts mehr zu tun.
    Frierend liege ich in meinem Bett in einem der Wirtschaftsgebäude. Draußen die grölenden Gesänge heimkehrender belgischer Soldaten.
    »Was, glaubst du, haben sie mit dem gemacht, den sie heute umgebracht haben?« frage ich Joe.
    »Das weiß ich nicht«, antwortet er leise, eine Ahnungslosigkeit, die mir an ihm sehr fremd ist. Normalerweise hat er immer zu allem zumindest eine Vermutung.
    »Meinst du, er liegt noch dort?« setze ich nach.
    »Bestimmt nicht«, meint Joe und erzählt, er habe gehört, daß man in manchen Orten die ermordeten Kollaborateure am Straßenrand aufgehängt hat, um die Überlegenheit zu zeigen.
    Ich will mir das lieber nicht vorstellen und versuche, ganz, ganz
fest an Ottmanach zu denken, daran, wie schön es sein wird, nach Hause zu kommen, Papi wiederzusehen.
    »Glaubst du, wir können bald nach Hause?« frage ich Joe.
    »Das weiß ich nicht.

Weitere Kostenlose Bücher