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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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nicht erlaubt wegzufahren.
    Überhaupt gehen heute ganz seltsame Dinge vor sich: Als wir heute morgen aufstanden, waren die Kanadier und Engländer wie vom Erdboden verschluckt. Alle Soldaten, alle Fahrzeuge einfach weg, auch die Offiziere aus unserem Haus. Letzte Nacht wurde schon das Basislager im Wald geräumt. Als wir hinkamen, um wieder
ein paar Sachen für uns zu organisieren, war alles weg: der Zaun, die Zelte, einfach alles. Nur eine Feuerstelle war noch ganz warm, und darauf stand tatsächlich noch eine Pfanne mit Essensresten: warme Kartoffeln und Würstchen, die wir natürlich leergegessen haben. Wir konnten uns das alles nicht erklären, haben uns nicht lange dort aufgehalten und nur flüchtig den Boden und die umgebenden Büsche nach Brauchbarem abgesucht. Joe hat tatsächlich eine wunderschöne, leuchtendrote, ganz luxuriöse Aktentasche aus echtem Leder gefunden. Joe hat sich über diesen Fund gefreut wie ein Schneekönig und hat gesagt, daß er sie als Schultasche nehmen wird und daß er glaubt, daß sie ihm Glück bringt.
    Vorerst sind wir aber alle sehr verunsichert, was dieser plötzliche Weggang der Soldaten zu bedeuten hat, und während wir auf der Terrasse sitzen und beratschlagen, was nun werden soll, kommen Lastwagen voll mit fremden Soldaten auf das Haus zu. Sie haben andere Uniformen als die Engländer und Kanadier, sind sehr laut, schreien irgendwie ganz unmilitärisch durcheinander, und der eine oder andere hat sogar eine Bierflasche in der Hand.
    »Guten Tag, kann ich Ihnen irgendwie helfen?« fragt Gert den Offizier, als dieser in Begleitung von drei Soldaten vor der Haustür steht. Alle halten Gewehre im Anschlag, und ich höre, wie Joe Mami zuflüstert: »Die sind ja betrunken!« Und Mami erwidert: »Das kommt wahrscheinlich von den tagelangen Siegesfeiern.«
    Mit ganz glasigem Blick überreicht der Offizier Gert ein Schriftstück. Meine Mutter und Onkel Gert lesen und sehen die Fremden entsetzt an.
    »Aber das geht doch nicht, daß wir alle aus unserem Haus müssen! Wo sollen wir denn hin?« versucht Gert noch irgendetwas für uns zu retten.
    »Das ist wirklich Ihr Problem«, gibt der Offizier in gutem Deutsch zurück. »Sie haben hier keine Rechte mehr. Und schließlich haben Sie genug Scheunen und Ställe.« Gert will ganz offenbar etwas erwidern, aber der Offizier läßt ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Ihr habt genau zwei Stunden Zeit und keine Minute länger.«
    »Schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren!« Gert ruft alle zusammen. »Die Belgier sind ab sofort hier die Besatzungsmacht. Sie werden das Herrenhaus zu ihrem Hauptquartier machen. Alles,
was wir in zwei Stunden rausschaffen können, dürfen wir mitnehmen, alles andere bleibt hier und gilt als beschlagnahmt, also packt alle mit an!«
    Und meine Mutter fügt hinzu: »Jeder nimmt zuerst seine persönlichen Sachen, Kleidung, Wertsachen und so was und dann alles, was wir sonst noch dringend brauchen: Decken, Matratzen, Stühle, Tische, Kochgeschirr, Vorräte. Was nicht kaputtgeht, werft aus den Fenstern. Wir schaffen das dann später in die Wirtschaftsgebäude. Wer wo einzieht, besprechen wir dann. Los!« Zu Joe und mir sagt sie auf dem Weg nach oben in unser Zimmer: »Und vergeßt bloß nicht die Sachen von Manfred!«
    Mein kleiner Bruder hört seinen Namen, strahlt in die Runde und streckt einem belgischen Soldaten seinen Keks entgegen. »Makeks gut!« Der Belgier ziert sich ein wenig, dann nimmt er den Keks aber doch entgegen. »Dankeschön. Wie heißt du denn?«
    »Mampi.«
    Der Belgier tätschelt ihm die Wange. Manfred zeigt mit dem Finger auf das Gewehr des Soldaten, lacht vergnügt und sagt: »Mawehr. Bum, bum, bum, bum, bum.«
    Der Belgier sieht ihn ratlos an.
    Währenddessen entsteht um uns herum bereits ein Durcheinander, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Alle rennen kreuz und quer, rufen sich schnelle Befehle zu. Wir packen hastig unsere Sachen ein, werfen alle Matratzen, Bettzeug, Bündel mit Kleidung aus den Fenstern, während die belgischen Soldaten herumstehen, den Frauen hinterherpfeifen, die Zimmer in Augenschein nehmen und sich aus Onkel Gerts Barschrank Schnaps und Cognac gleich aus der Flasche genehmigen.
    Einmal hören wir unten auch einen Schuß, ein lautes Klirren und großes Gelächter. Zum Glück ist nichts passiert, die Belgier haben sich nur einen Spaß daraus gemacht, auf ein Photo zu schießen, auf dem Onkel Werner in Uniform zu sehen ist.
    Rita wird so wütend, wie ich sie noch nie

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