Der Mann mit dem Fagott
Ich hoffe es. Laß mich schlafen.« Ich habe es noch nie erlebt, daß Joe sich so sehr in sich selbst zurückzieht wie in diesen Stunden, und dabei würde ich so gern mit jemandem über alles reden.
Der »Mann mit dem Fagott« steht auf dem Boden neben meinem Bett. Ich taste nach ihm, fühle das kühle Metall, das feine Gesicht der Figur, und das tröstet mich ein bißchen, wie die Gewißheit, daß Pascha auf dem Fußboden vor unseren »Zimmern« schläft, vor allem um die Frauen zu bewachen. Immer wieder haben sich Soldaten angeschlichen und wollten nachts polternd in die Zimmer der Frauen, aber Pascha ist ihnen immer entgegengetreten. »Hier alle schlafen! Ihr auch schlafen, ihr Idioten!« Obwohl sie manchmal mit »totmachen« gedroht haben, sind sie bisher noch jedesmal wirklich wie die begossenen Pudel abgezogen.
Mein Ohr schmerzt wieder stärker. Ich fühle, daß ich wieder Fieber habe. Hoffentlich nicht wieder eine neue Mittelohrentzündung, denke ich voll Angst, und ich weiß doch ganz genau, daß es wieder eine ist. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft ich seit der Ohrfeige des Jungzugführers schon Mittelohrentzündung gehabt habe. Es ist alles vernarbt, und ich höre schlechter als früher.
Mein ganzer Körper zittert vor Kälte. Ich schließe die Augen und spüre schon, wie es näher kommt. Diesmal ist alles rot. Blutrot. Nein, ich will nicht, will aufwachen. Es wird immer größer, dröhnender. Irgend jemand lacht mit aller Brutalität, mit der man lachen kann. Ich höre Schläge. Und Schüsse. Sie hallen pochend in meinem Ohr. Blut spritzt, jemand schreit unter Folterqualen. Andere rufen gellend französische Befehle. Und dazwischen Manfred, der immer »Makeks« sagt und strahlt und nichts von der Gefahr merkt, die uns mit allem Lärm, dessen Menschen fähig sind, überrollt.
11. KAPITEL
Kärnten, April bis Mai 1945
»Vom Eise befreit sind Strom und Bäche«
Sonntag, 1. April 1945, Ostern. Glockengeläute und Feiertagsstille im Gefängnis und über der Stadt. Rudi Bockelmann liegt auf seiner Pritsche. Feiertage und Sonntage sind am schlimmsten. Da scheint die Zeit stillzustehen, und die Gedanken und Gefühle sind noch stärker als sonst von der Sehnsucht nach »draußen«, nach der Familie, nach Freiheit beherrscht. Es ist eine Sehnsucht, die immer nur um Haaresbreite von purer Verzweiflung entfernt liegt, und manchmal, sosehr Rudi sich auch dagegen wehrt, wird er von ihr überrollt. Ostern, das ist immer ein wichtiges Fest in der Familie gewesen, eine Mischung aus den russischen Traditionen und den deutschen Bräuchen, und die Kinder hatten im Garten Ostereier gesucht. Ob sie das auch heute tun würden? In Barendorf? Ob es ihnen gutging? Rudi macht sich große Sorgen.
Vor ein paar Tagen hatte Dr. Wallner, der wegen Kollaboration verhaftete Arzt, Gelegenheit gehabt, Nachrichten zu hören. Es war ein purer Zufall gewesen, die Unachtsamkeit eines Wärters, der Wallner geholt hatte, um nach einem Gefangenen zu sehen, der aus dem Folterkeller kam, mit inneren Verletzungen und hohem Fieber. Der Wärter war mit Wallner kurz in sein Büro gegangen, um irgendetwas zu holen, und dort war das Radio gelaufen, so hatte Wallner sich nach Wochen wieder einmal einen Eindruck von der Kriegslage verschaffen können, und es schien eindeutig zu sein. Es war unüberhörbar: In Norddeutschland gingen offenbar große
Kampfhandlungen vor sich, die Front im Osten rückte immer näher, anscheinend standen die Russen bereits vor Wien, hatten weiter im Norden die Oder-Neisse-Linie erreicht, im Westen standen die Alliierten am Rhein, und in manchen Gebieten schien er weit überschritten, Frankfurt am Main schien besetzt zu sein, genauso wie Köln und Mannheim, und überall rückte die Front immer weiter vor, überall auf deutschem Gebiet wurde gekämpft.
Wallner hatte seinen Mitgefangenen natürlich sofort davon berichtet, und seither kämpfte Rudi hart mit sich selbst, um nicht von Panik über die Gefahr beherrscht zu werden, in der seine Familie schwebte, während er hier im Gefängnis saß.
Und die Gefahr, nicht zu überleben, bestand inzwischen nicht mehr nur in einem möglichen Todesurteil gegen ihn, sondern auch die Haftbedingungen selbst hatten das ihre dazu getan. Er ist inzwischen bis auf die Knochen abgemagert, hat wohl schon über 30 Kilo verloren, sein Körper wird immer wieder von heftigen Fieberschüben geschüttelt, er hat Krämpfe. Dr. Wallner versucht, ihm zu helfen, so gut es geht, er vermutet Ruhr,
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