Der Mann mit dem Fagott
ihrer Besitzer erzählen.
Das Meer ist aufgewühlt von den Stürmen, die hier dem Frühling zum endgültigen Durchbruch verhelfen, und wenn er über die bizarre Landschaft blickt, scheint ihm unvorstellbar, daß Europa, ja sogar die ganze Welt - mit Ausnahme einiger weniger Länder wie Schweden, in das Heinrich mit seiner Familie fliehen konnte - seit beinahe drei Jahren in einem Kriegszustand nie gekannten Ausmaßes brennt. Aber vielleicht nicht mehr lange. Es ist ein Krieg, der an Grausamkeit alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt und die Menschheit an einen Punkt ihrer Existenz geführt hat, der unvorstellbar schien, eine Erfahrung, die in der Menschheitsgeschichte nie mehr übertroffen werden kann, dessen ist Heinrich Bockelmann sich sicher. Der Weltkrieg von 1914 wird als letzter großer Krieg in die Geschichte eingehen, daran gibt es für Heinrich Bockelmann keinen Zweifel. Wenn dieser Krieg überstanden ist, kann es nur noch Diplomatie und irgendwann vielleicht
sogar eine Völkergemeinschaft geben, aber nie mehr Krieg, davon sind alle politischen Kommentatoren in den großen Blättern felsenfest überzeugt, und der Gedanke beruhigt ihn in dieser schwierigen Zeit.
Wolken jagen über den dunkelblauen Himmel, Schaumkronen auf dem Meer. Es bahnt sich eines der hier am Meer so besonders beeindruckenden Frühlingsgewitter an. Auch die Jungs sind unruhig. Immer wieder hört er sie oben im Salon toben und streiten, der Hauslehrer hat Grippe, daher gibt es heute keinen Unterricht. Es herrscht eine fiebrige Aufgeregtheit, die alle erfaßt zu haben scheint und die seine eigene Nervosität noch schürt. Paschas Stimme, die laut schimpfend viel zu spät für Ordnung sorgen will - auf Russisch, als wären sie noch in der alten Heimat. Russisch ist immer noch die vorherrschende Sprache in Heinrichs Haus. Die Kinder sprechen fast nur russisch miteinander und mit Anna und ihm, durchsetzt von wenigen französischen und deutschen Dialogen. Und Rußland ist Heinrich auch immer noch viel näher als Schweden. Heimat - das ist für ihn ein Gefühl zwischen Deutschland und Rußland, ein zerrissenes Gefühl.
Heimat, das hat für ihn auch mit Gefordertsein zu tun, mit Bindung, mit einem Einstehen für ein Land. Schweden empfindet er bis heute als eine Durchgangsstation, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Viele Emigranten, im Krieg aufgeriebene Geschäftsleute aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern haben wie er hier Zuflucht gesucht. Kontakte, die er nutzen konnte, um sich nach seiner Flucht, dem Verlust der Junker-Bank und eines großen Teils seines Privatvermögens wieder in seinem Metier zu etablieren. Unter anderem verdankt er diese Entwicklung dem Vertrauen, das sein alter Freund Baron Rothschild ihm in Form eines Blankoschecks zum Zwecke des Neubeginns entgegengebracht hat. Heinrich Bockelmann hat damit ein paar gute Investitionen getätigt unter anderem in eine neue Erfindung aus Solingen, deren Wert ihm im Gegensatz zu vielen anderen Bankleuten sofort einleuchtete: rostfreier Stahl, gerade in Zeiten wie diesen für die Waffenindustrie eine wahre Revolution, aber auch in Friedenszeiten ein Gewinn für die Menschheit. Seine »gute Nase« für gewinnversprechende neue Unternehmen hat ihn noch nie getrogen - und so war es auch diesmal. Er hat einen großen Betrag aus dem Rothschild-Darlehen riskiert, hat der
neuen Erfindung auf die Beine geholfen, und seine Investition hat sich schnell bezahlt gemacht. In erstaunlich kurzer Zeit hatte er dem Baron seine Leihgabe samt Zinsen zurückzahlen können.
Seither ist er wieder im Geschäft und lebt fast so, als hätte er nicht mit Kriegsbeginn beinahe die Grundlage seiner Existenz verloren. Er macht Geschäfte mit aller Welt, genießt großes Ansehen in diplomatischen, geschäftlichen und gesellschaftlichen Kreisen.
In Stockholm hat er eine prächtige und repräsentative Stadtwohnung und in Saltsjöbaden eine Villa direkt am Meer, wo er mit seiner Familie lebt. Ein Paradies auch für seine Jungs, die sich in der weitläufigen freien Natur an den zahlreichen Stränden austoben können. Er selbst hält von dieser neuen Strand- und Körperkultur nicht allzuviel, aber für die Jugend ist es sicher etwas Wunderbares. Jedenfalls scheinen sie sehr viel Spaß daran zu haben.
Manchmal macht es ihm Sorge, daß seine Söhne die russische Heimat ganz vergessen könnten. Zu präsent ist inzwischen dieses allzu leichte Leben in Schweden. Das Land ist ihm eine Spur zu sorglos, zu
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