Der Mann mit dem Fagott
nimm Platz! Darf ich dir einen Schluck Wein anbieten?«
Dankbar setzt Onkel Erwin sich. »Nein, aber ein Glas Wasser wäre schön.«
Beierlein schenkt es ihm ein, erkennt die Situation und zieht sich mit meinen anderen Mitarbeitern zurück.
Ich fühle mich ein wenig in die Lage unseres letzten »Vier-Augen-Gesprächs« zurückversetzt - damals, vor fünf Jahren, im Arbeitszimmer seiner Villa in der Elbchaussee, als er mir sagte, daß ich bei der Party seiner Söhne nicht willkommen sei.
Ich setze mich ihm gegenüber.
»Schön, daß du hier bist«, versuche ich, die etwas steife Situation zu überbrücken.
»Ja. Ich wollte nicht gesehen werden, deshalb habe ich mir etwas versteckte Plätze besorgen lassen und bin erst in den Saal gegangen, als das Licht ausging. Bitte, versuch mich zu verstehen.«
»Natürlich. Hauptsache, du bist gekommen!«
»Ja …« Pause. »Ich mache das nicht sehr oft, aber ich muß mich bei dir entschuldigen«, bricht es plötzlich zwischen zwei pfeifenden Atemzügen aus ihm hervor. »Ich hatte ja keine Ahnung, was du machst, was du den Menschen mit deiner Musik geben kannst und mir auch. Ich hab mich damals geirrt, als ich meinte, aus dir würde nichts werden. Es tut mir so leid! Heute abend habe ich begriffen, wie wertvoll das ist, was du tust … Ich hab so vieles falschgemacht, kannst du mir verzeihen?« Der große, mächtige Mann, vor dem ich seit meiner Kindheit immer ein wenig Angst hatte, hat Tränen in den Augen.
Schweigend gehe ich zu ihm, umarme ihn. Noch nie habe ich mich diesem ältesten meiner Onkel, der mir immer fremd war, so nah gefühlt. Umarmt haben wir uns noch nie, nicht einmal in meiner Kindheit. Er war immer distanziert, vor allem Kindern, ungestümen Menschen gegenüber. In diesem Augenblick spielt das alles keine Rolle mehr. Ich hätte die ganze Welt umarmen können! Kein Erfolg der Welt hätte mir soviel bedeuten können wie diese Worte, diese Geste meines Onkels. Ich spüre seinen schweren Atem nah an meinem Ohr, nehme den leichten Duft nach Kölnisch Wasser wahr, das mir auch von meinem Vater so vertraut und für ihn der Duft der besonderen Tage und Anlässe ist. Erinnerungen, Gefühle, Assoziationen, die nicht faßbar sind und mich mit einer Macht ergreifen, die mich sprachlos macht. Onkel Erwin findet die Worte als erster wieder.
»Ich werde gleich morgen deinen Vater anrufen und ihm alles
erzählen«, meint Onkel Erwin leise. Er löst sich aus der Umarmung und nimmt noch einen Schluck Wasser. Dann öffnet er seine Aktentasche und nimmt zögernd eine dunkle Aktenmappe heraus. »Von deinem Vater weiß ich, wie sehr du dich für die Geschichte unserer Familie interessierst. Ich habe hier etwas für dich. Ich bin sicher, es ist bei dir in guten Händen. Schau es dir in Ruhe an, wenn du nach dem ganzen Rummel in dein Hotel kommst, und gib es dann auch deinem Vater. Ich habe da eine ganz verrückte Entdeckung gemacht, als ich alte Korrespondenzen und Akten geordnet habe. Es betrifft meinen Vater, also deinen Opa.« Er macht eine Pause. »Und ich bin sicher, wenn dein Großvater dich heute abend gesehen hätte, er wäre genauso stolz und glücklich gewesen. Er war ja immer besorgt, was aus dir werden würde, hat viel mehr Vertrauen in deinen älteren Bruder Joe gehabt, aber heute … heute hättest du ihn nicht nur von dir überzeugt, sondern er wäre dein größter Bewunderer geworden.« Mit einem verschmitzten Lachen, das seinen unter der harten Schale blitzenden Humor erahnen läßt, fügt er hinzu: »Nach mir, versteht sich.«
Erwins Mappe
Drei Uhr morgens. Die Stille des Hotelzimmers schmerzt beinahe nach dem Lärm dieses Tages. Die Premiere liegt hinter mir, auch die Premierenfeier. Chaos der Eindrücke in meinem Kopf. Aufgewühlte Müdigkeit. Hoffentlich werde ich schlafen können. Im Fernsehen nur das Testbild. Ich hätte jetzt gern noch Nachrichten gehört, einen Film gesehen, irgendetwas. Auf dem Nachttisch die Mappe, die Onkel Erwin mir vorhin gegeben hat. Ich habe noch gar nicht hineingesehen, es war einfach zuviel los. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.
Obenauf einige Photos, von Erwin sorgfältig auf der Rückseite beschriftet: »Unser Haus in Saltsjöbaden, Schweden, 1916/17«, »Heinrich und die fünf Söhne am Strand«, jeder einzelne der Söhne in Matrosenanzügen an einen Baum gelehnt, ein Bild, das meinen
Vater und seinen Bruder Werner mit einem großen Drachen zeigt, Heinrich in seinem Arbeitszimmer, auf dem
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