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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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würde. Als der geheimnisvolle Zug den Bahnhof erreichte, war es gerade Mitternacht, und die Bahnhofshalle sowie der Vorplatz waren gefüllt mit Menschen, die rote Fahnen schwenkten. Daß so viele Menschen gekommen waren, hatte zwar sicher auch damit zu tun, daß es Freibier gab und daß gerade das in Rußland so wichtige Osterfest gefeiert wurde, das ohnehin die Massen mobilisierte, aber ein Empfang dieser Größenordnung war trotz allem etwas völlig Ungewöhnliches und auch von den deutschen Geldgebern und Organisatoren Unerwartetes. Eine Militärkapelle spielte die Marseillaise, eine Eskorte brachte ihn zu jenem Warteraum, der früher für den Zaren reserviert war. Dort hieß ihn eine Rätedelegation willkommen, dann trat er vor die Menge, und man empfing den Revolutionär wie einen Welterlöser, so hatte man Heinrich inzwischen berichtet. Es muß gespenstisch gewesen sein, und Heinrich ist manchmal gar nicht so ganz wohl in seiner Haut, wenn er an den Sturm denkt, den auch er mit dieser Aktion mit ausgelöst hat.
    Lenin, der ja kaum je in seiner russischen Heimat gelebt hatte, ordnete sich nach seiner Ankunft auch keineswegs der bolschewistischen Partei und deren Programm unter, sondern stieg auf ein Wagendach und verkündete seine eigenen Vorstellungen von der kommunistischen Weltrevolution. Zum Erstaunen der Parteigenossen und zur Begeisterung der Massen. Dann ließ er sich in einem gepanzerten Wagen zum Palais der Kschessinskaja, einer
ehemaligen Geliebten des Zaren bringen, das inzwischen zum Hauptquartier der Bolschewiki geworden war, um am nächsten Tag im Taurischen Palais, geschützt von einer bewaffneten Eskorte, bei einer Versammlung von Sozialdemokraten seine neue Definition der Revolution zu proklamieren. Weg von den Vorstellungen der Etablierung einer parlamentarischen Demokratie, hin zu einer »echten Macht der Räte« - und die Bewaffnung der Arbeiter und Bauern zum Zwecke der Revolution.
    Was Lenin da propagiert - Sozialismus in einer sehr extremen Form -, ist natürlich für Heinrich und seine Mitstreiter undenkbar, und die Vorstellung, daß diese politische Richtung sich in seiner russischen Heimat durchsetzen könnte, bereitet ihm Alpträume, ebenso wie dessen Aussagen, die Revolution werde sich nicht auf Rußland beschränken, sondern die ganze Welt erfassen. Aber so grotesk es erscheinen mag: Lenin ist im Augenblick die einzige Hoffnung auf Frieden zwischen Rußland und Deutschland. Immer wieder hat Lenin in seinen Reden und Schriften betont, er wolle einen Frieden um jeden Preis, einen sofortigen Rückzug Rußlands aus dem Krieg, um sich auf den innenpolitischen Kampf konzentrieren zu können. Daß er diesen Kampf gewinnen könnte, hat bisher keiner der Geldgeber ernsthaft in Erwägung gezogen, aber er wird mit seinem Vorhaben für soviel Unruhe sorgen, daß Rußland sich aus dem Krieg zurückziehen muß und zwischen Deutschland und Rußland wieder Normalität einkehren könnte. Was Kropotkin damals, im Mai 1915 bei ihrem Gespräch in der Bank gesagt hatte, hatte sich bewahrheitet: Dieser Krieg war ein Krieg der Kaiser, und die Revolutionäre waren die einzige Chance auf Frieden.
    Der Zar ist ja mittlerweile gestürzt, und es wurde unter großem Chaos eine provisorische Regierung gebildet mit etwas undurchschaubaren Leuten an der Spitze: dem in Dresden geborenen Georgij Fürst Jewgenjewitsch Lwow und Alexander Fjodorowitsch Kerenskij, beides unberechenbare Männer, die nie klar für oder gegen den Krieg Stellung bezogen haben und die Kriegssituation noch verschlimmern könnten. Lenin ist immerhin ein Mann von bürgerlicher Herkunft, also im Grunde einer von ihnen, das hat auch seine Geschäftsfreunde, die deutsche Gesandtschaft und letztendlich auch den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg, an den all seine Briefe und Berichte übermittelt
werden, überzeugt. Diese bürgerlichen Wurzeln in sich wird auch ein Mann wie Lenin nie ganz abschütteln können, so hoffen sie, allen radikalen Ideen zum Trotz. Und daß er persönliche Annehmlichkeiten wie die Reise in einem bequemen Zug, die Unterkunft in herrschaftlichen Palästen und dergleichen Vergünstigungen zu schätzen weiß, hat er auch im Zusammenhang mit dieser von Heinrich mit organisierten Reise nach Rußland bewiesen. Angeblich hat er im Zug sogar eine »Zwei-Klassen-Gesellschaft« etabliert: Raucher in den einen - schlechteren -, Nichtraucher in den anderen - besseren - Abteilen mit bevorzugter Benutzung der

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