Der Mann mit dem Fagott
Zugtoilette für die »bessere Gesellschaft« und dergleichen mehr. Er weiß also durchaus, sich seinen persönlichen Vorteil zu verschaffen, wenn auch die Einteilung nach Raucher und Nichtraucher in Heinrichs Augen reichlich spießbürgerlich ist für einen Intellektuellen und Revolutionär. Jedenfalls schätzt Lenin offenbar für sich selbst ein gutes Leben, erkennt seine Privilegien und nutzt sie, und so jemand wird nie bis zum Letzten gehen, wenn es heißt, für seine Ideale in einer Revolution einzustehen und dabei Entbehrungen in Kauf zu nehmen. Außerdem hört man, daß Lenin ohnehin persönlich sehr feige sei, daß er also jedem Tumult aus dem Wege gehe, die Schlachten andere schlagen lasse. So ein Mann wird letztendlich nie so radikal sein, wie er es in seinen Absichtserklärungen ankündigt, um seine Anhänger zu mobilisieren. Man wird ihm also weiterhin vertrauen und das Risiko eingehen müssen. Ganz wohl ist Heinrich nicht dabei, aber es gibt keine Alternative.
Er wendet sich wieder seinem Sekretär zu und diktiert: »Der Sozialist Lenin treibt in Petrograd weiter Friedenspropaganda. Er hat seine Anhänger um sich versammelt und erregt das Volk mit seiner Gehässigkeit gegen Amerikaner, Engländer und Franzosen. In den letzten Tagen hat er eine große Demonstration vor der amerikanischen Botschaft inszeniert, bei der er eine Rede gegen den amerikanischen Kapitalismus gehalten hat, der Amerika in den Weltkrieg hineingezwungen habe, um weitere Milliarden zu verdienen. Absatz.«
Heinrich hält inne. Nachdenklich greift er nach einer in bordeauxrotem Leder gebundenen Mappe, die die Aufschrift »Dokumente« und seine Initialen »H.B.« trägt. Er hat sie heute morgen
aus seinem Safe geholt und blättert in den vielen Briefen, die sich dort in der aktuellen Angelegenheit angesammelt haben: Berichte seiner Kontaktpersonen in Rußland, Durchschläge seiner eigenen Briefe, Briefe des deutschen Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg. Schnell findet er das Gesuchte: den Brief, in dem der Reichskanzler ihn nach seiner Meinung fragt, ob und inwieweit dieser Lenin in Rußland von der Bevölkerung unterstützt werde und ob man mit finanziellen oder sonstigen Mitteln dazu beitragen könne, dessen Wirkung zu verstärken und so das angestrebte Ziel des Kriegsendes schneller herbeizuführen.
Immer wieder stockt Heinrich Bockelmann der Atem, wenn er an diese Stelle des Briefes kommt. Er hat sie schon oft gelesen, doch das Gefühl der Unruhe hat sich bei diesen Zeilen des Reichskanzlers bis heute nicht verflüchtigt. Was für eine unermeßliche Verantwortung. Worauf hat er sich da nur eingelassen? Aber auch was für eine unermeßliche Chance. Er berührt das Fagott der Bronzestatue, als könne es ihm Glück bringen. Stille im Raum, und Heinrich beginnt, dem Reichskanzler alles, was er weiß über Lenin und die Revolutionäre in Rußland zu berichten.
Er versucht, ganz bei der Sache zu bleiben, seine Einschätzung der Lage so knapp und präzise wie möglich zu formulieren und sich ganz auf diese Fakten zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweifen immer wieder ab in beklemmende Erinnerungen an Wassilij Sergejewitsch Kropotkin, dem Verräter und Helfer in einer Person, dem Roten, dem er seine Verhaftung ebenso verdankt wie seine Freiheit. Erinnerungen an seinen Freund, Baron von Knoop, und jenen Theaterabend 1912 im Bolschoj, an dem Baron von Knoop aus Solidarität mit den aufständischen Arbeitern eine rote Armbinde trug.
Die Schreibmaschine rattert und klingelt. Selbst die oben heftig streitenden und tobenden Söhne nimmt er wie durch einen Schleier wahr. Draußen braust eine Windböe auf, dann ist es wieder fast gespenstisch ruhig.
Er kontrolliert seinen Atem, um dem Sekretär seine Nervosität nicht zu zeigen, als er schließlich zu einem Appell ansetzt, der sich mit jedem Wort steigert: »Trotz bedeutender Leute, namentlich Russen und Deutschen, deren patriotische Ansicht es ist, daß daran gearbeitet werden muß, freundschaftliche Beziehungen zwischen
Deutschland und Rußland wiederherzustellen, gibt es keine dahinzielende Organisation, die sich der Sache annimmt, gibt es in Rußland keine von Deutschland unterstützte Presse, keine Menschen, die öffentlich der Agitation der hetzerischen und verleumderischen Arbeit unserer Feinde entgegentreten.«
»… der hetzerischen und verleumderischen …«, wiederholt der Sekretär fragend und etwas angestrengt.
»Entschuldigen Sie, ich war wohl etwas zu schnell«, erwidert
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