Der Mann mit dem Fagott
sauber, von wirklichen Problemen zu sehr verschont. Deutschland und Rußland, das sind Länder voller Ungereimtheiten und Turbulenzen, da begegnen sich Aggression und künstlerische Poesie. Wilde Gefühle und Emotionen erzeugen Kreativität. Genau das vermißt er hier. Die trügerische Ruhe in diesem Land, die Selbstgefälligkeit könnte seinen Söhnen eine falsche Realität des Lebens vermitteln, so fürchtet er manchmal.
Aber jetzt gilt es erst einmal, diesen wichtigen Brief zu Ende zu bringen. Es ist der zweite innerhalb von drei Tagen. Wie viele Briefe und Berichte er in dieser Sache in den letzten Monaten schon geschrieben hat, weiß er schon gar nicht mehr.
Die Stille der Schreibmaschine hat etwas Forderndes, auch wenn der Sekretär sich bemüht, Heinrich durch sein Abwarten nicht nervös zu machen. Gedankenverloren betrachtet er den »Mann mit dem Fagott«, die Statue, die auf seinem Schreibtisch steht und die so unendlich viele Erinnerungen in sich birgt. Wo wäre er heute, wenn er damals, als Einundzwanzigjähriger auf dem Bremer Weihnachtsmarkt vor sechsundzwanzig Jahren nicht diesen Klang gehört, diesen geheimnisvollen Mann getroffen hätte. Und wo, wenn er ihm nicht an jenem Schicksalstag vor zwei Jahren in Moskau begegnet wäre, als es galt, sich für oder gegen eine
Flucht zu entscheiden? Vergangenheit. Jetzt gilt es, die Gegenwart zu bewältigen.
Er denkt nach. »Absatz …« Die Schreibmaschine rattert und klingelt. »Für und wider den Frieden wird auf allen Seiten auf das schärfste agitiert, und es ist auf das lebhafteste zu bedauern, daß seitens Deutschlands bisher nichts getan wird, um den Parteien, die für den Frieden sind, beizuspringen.« Nun muß er an den wesentlichen Punkt des heutigen Briefes kommen, denn die Sache eilt.
Und dieser Punkt ist ausgerechnet mit den russischen Revolutionären verbunden. Allen voran mit einem gewissen Vladimir Iljitsch Lenin, der bis vor wenigen Wochen in Zürich im Exil gelebt hat, dort fast täglich an seinem Stammtisch im Café Odeon oder in der Konditorei Schober anzutreffen war, Interviews gegeben, diskutiert und in dieser lebendigen Kaffeehausatmosphäre auch seine aufsehenerregenden Schriften verfaßt hat. Man erzählt sich, er habe überall anschreiben lassen und seine Rechnungen dann nie bezahlt. Aber, wie dem auch sei, er ist im Moment der einzige, der einen neuen Wind in die russische Heimat bringen könnte, einen neuen Geist - und letztendlich vor allem den Frieden.
Vor wenigen Tagen ist er gemeinsam mit dreißig Gesinnungsgenossen aus dem Schweizer Exil zurück nach St. Petersburg gebracht worden - in einem verplombten Zug, bestehend aus einer Lokomotive und einem einzigen Waggon, der über Frankfurt, Berlin und Stockholm geführt wurde, also über deutsches und schwedisches Staatsgebiet. Die Aktion ist in den höchsten deutschen diplomatischen und militärischen Kreisen vorbereitet und von deutschen Wirtschaftsträgern finanziert worden. Heinrich hatte sich schon damals daran beteiligt - finanziell und organisatorisch. Es war eine mehr als komplizierte Aktion, zumal sie natürlich geheim bleiben mußte. Die Kontakte liefen über den deutschen Gesandten in Bern, Freiherr von Romberg, der in ständigem Kontakt mit Lenins engstem Vertrautem, dem schweizer Sozialdemokraten Fritz Platten stand und auch Lenins ganz klaren Wunsch an Deutschland weiterleitete, ihn irgendwie nach Rußland zu bringen. Der deutsche General Erich Ludendorff, neben Hindenburg zur Zeit der mächtigste Kriegsherr Deutschlands, hatte das Vorhaben massiv unterstützt.
Der Zug durfte die großen Städte natürlich nur spätnachts passieren. Die Gefahr von Unruhen und Demonstrationen für oder gegen Lenin und seine Anhänger wäre sonst einfach zu groß gewesen. Zu große Angst hat man letztendlich auch in Deutschland vor der unkontrollierbaren Macht eines revolutionären Agitators.
Irgendwie ging es gut, und Lenin ist in St. Petersburg von seinen Anhängern geradezu frenetisch empfangen und gefeiert worden. Daß Lenin in dieser Nacht auf dem Finnländischen Bahnhof ankommen würde, hatte sich herumgesprochen. Ausgerechnet an jenem Bahnhof, von wo aus Heinrich vor mittlerweile zwei Jahren die letzte und gefährlichste Etappe seiner Flucht angetreten hatte, versteckt in einem Güterzug, den »der Wikinger« ihm vermittelt hatte. Damals war alles gutgegangen, und Heinrich hoffte, daß dieser Finnländische Bahnhof nun auch für die »Operation Lenin« ein gutes Omen sein
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