Der Mann mit dem Fagott
besuchen, die er noch nie in seinem Leben gesehen hat und von denen er sich immer vorgenommen hat, irgendwann in seinem Leben wenigstens noch einen kleinen Eindruck mitzunehmen. In zwei Jahren wird er neunzig Jahre alt sein, wahrscheinlich bleibt ihm nicht mehr viel Zeit.
Reisen hat er in all der Zeit keine unternommen, er war so froh
gewesen, endlich seinen Lebensort London gefunden zu haben und dort zur Ruhe zu kommen, doch in letzter Zeit verstärkte sich die Sorge, etwas Wichtiges versäumt, so vieles auf der Welt nicht gesehen zu haben. Flugreisen sind ihm suspekt und unbequem, aber eine Reise von London nach Meran in seinem bequemen Rolls Royce, das schien ihm bewältigbar.
Und er ist noch nicht zu gebrechlich für so eine Reise, was ihn selbst erstaunt. Er ist gesund, schlank, braucht zum Gehen keinen Stock, hat sogar, wenn es ihm besonders gutgeht, die Sonne scheint, jemand ihm auf der Straße ein Lächeln schenkt, einen beinahe federnden Gang. Sein Haar war weiß geworden, aber das war schon Jahrzehnte her, und manchmal vergißt er sogar, daß er beinahe neunzig Jahre alt ist. Er fühlt sich jünger, beweglicher als vor dreißig Jahren, in seinem »anderen Leben«. Nur die Begrenztheit der Zeit ist ihm seit einigen Jahren eine ständig beklemmende Warnung, die Tage nicht zu verschwenden. So hat er die Gelegenheit genutzt: Von London ist er nach Paris gefahren, dann weiter nach Dijon, Genf und Mailand, nun ist man kurz vor Verona abgebogen und hat das letzte Stück auf dem Weg zu seinem Ziel, der Stadt Meran, vor sich.
Zuerst hatte der alte Mann erwogen, eine ganz andere Strecke zu fahren und auch Bremen einen Besuch abzustatten, doch er meidet Deutschland und Österreich. Der Krieg ist zwar seit zehn Jahren vorbei, doch er weiß, daß der Wiederaufbau noch lange nicht abgeschlossen ist. Zuviel Zerstörung möchte er in seinen alten Tagen nicht mehr sehen, und Bremen hat sich sicher auch sehr verändert. Er möchte es so in Erinnerung behalten, wie er es in seinen Jugendjahren erlebt hat, als er dort einige Jahre lang als Lehrer gearbeitet hat. Er hat es damals hinter sich gelassen, und wahrscheinlich war das auch gut so.
Was er unterwegs gesehen hat, hat ihn beruhigt: Die Orte, die man passiert oder in denen man sich aufgehalten hatte, berühmt oder nicht, mochten Interessantes zu bieten haben, aber sie waren keine Orte für seine Sehnsucht, hatten nichts mit ihm zu tun. Er konnte sie hinter sich lassen, hatte nichts versäumt.
Der alte Mann spürt eine seltsame Aufgewühltheit, die seinen Anfang nahm, als er damit begann, diese Reise zu planen, und die immer stärker wird, je näher er seinem Ziel kommt. Es ist ein wenig
so, als würden alte Gefühle, fremde, weit zurückliegende Wirklichkeiten wieder lebendig und müßten noch einmal bewältigt werden. Vielleicht ist das so, wenn man alt wird. Zeit, um den Bogen seines Lebens abzurunden und mit sich selbst ins reine zu kommen.
Er holt aus seiner Brusttasche einen abgegriffenen, vergilbten Umschlag heraus, faltet den darin befindlichen Brief auseinander, dessen Inhalt er auswendig kennt. Die Handschrift jenes seltsamen Deutschen, die ihm beinahe so vertraut ist wie seine eigene, die fünfunddreißig Jahre alten, beinahe verblaßten Zeilen, die ihm sein »zweites Leben« geschenkt haben. Ohne diesen Brief wäre er heute wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben. Im Elend wird man nicht alt.
Was hat diesen Mann, diesen seltsamen Deutschen wohl dazu bewogen, diesen Brief zu schreiben, diese Summe auf der Londoner Rothschild-Bank für ihn zu hinterlegen, »… zuwenig für einen dummen Mann, um sich ein schönes Leben zu machen, aber genug für einen klugen Mann, um sich etwas aufzubauen …«? Vielleicht würde der alte Mann es morgen endlich erfahren.
Morgen war ein ganz besonderer Tag für ihn, ein Jahrestag, den er seit dreißig Jahren feierte - größer und wichtiger als seinen Geburtstag. Morgen würde es genau dreißig Jahre her sein, seit er das russische Frachtschiff Maxim Gorkij in Liverpool verlassen, sich nach London durchgeschlagen hatte und somit aus seiner russischen Heimat geflohen war. Freiheit, das war der wichtigste Wert, doch die Freiheit allein hätte ihm noch keine neue Existenz verschaffen können. Er wäre vom Bettler im Kommunismus zum Bettler in der Demokratie geworden.
Nur dank der Summe, die dieser seltsame Deutsche auf der Rothschild-Bank hinterlegt hatte, dank der Briefe, die in weiser Voraussicht für ihn dort bereitlagen
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