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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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was er gestern erfahren hat. Die Erinnerung ist zunächst nur ein undeutliches Gefühl eines Verlustes, einer Beklemmung. Dann, nach einigen Momenten der Besinnung
steht ihm der gestrige Tag, das Telefonat mit dem stellvertretenden Bürgermeister und das, was er sich für heute vorgenommen hat, wieder klar vor seinen Augen. Vor dem Fenster die bizarren Bergmassive Norditaliens im Morgenlicht. Diese Landschaft also hatte Heinrich Bockelmann in den letzten Jahren seines Lebens täglich gesehen. Hier, wo der Blick überall an Grenzen stößt, ist er begraben. Es paßte gar nicht zu diesem Mann. Aber was wußte er schon von ihm.
    Der alte, braune, etwas abgenutzte Koffer mit den Messingbeschlägen quietscht beim Öffnen. Die Scharniere müßten geölt werden. Aber eigentlich ist es auch gar nicht mehr wichtig. Wahrscheinlich öffnet er den Koffer heute ohnehin zum letzten Mal.
    Behutsam streicht der alte Mann über den festen blauen Stoff der Jacke, die ihn nun bereits fast sein ganzes Leben lang begleitet hat. An manchen Stellen wird er inzwischen brüchig, aber es wird noch gehen, zumindest dieses eine Mal. Sorgsam wischt er einen kaum sichtbaren Staubfussel weg, legt die Jacke beiseite. Darunter das silberne Schimmern der Klappen seines Instruments. Sachte hebt er die einzelnen Teile aus dem Koffer, setzt sie mit geübten Fingern zusammen, fügt das Rohrblatt ins Mundstück ein und staunt selbst darüber, daß er die Handgriffe in all der Zeit, in der der Koffer verschlossen war, nicht verlernt hat. Er widersteht dem Bedürfnis, ein paar Töne zur Probe zu spielen. Er möchte die in den Nebenzimmern schlafenden Gäste des Hotels nicht wecken.
    Er nimmt den zerknitterten Zylinder, lächelt, schüttelt ihn aus. Langsam zieht er seine Uniform an. Die Hose schlottert ein wenig am Bund, die Jacke hat etwas zuviel Spielraum an den Schultern. Er hat seit seiner Jugend abgenommen. Egal, darauf kommt es nicht an.
    George klopft leise an die Tür und bringt das Frühstück. Dazu ein Stück Kuchen mit einer Kerze: »Happy 30 th Birthday!« Seit dreißig Jahren feiert er nur noch diesen »Geburtstag«, seinen Freiheitstag. Seinen 88. Geburtstag hat er nicht gefeiert, dafür feiert er heute seinen 30.
    George hat den alten Mann noch nie in seiner Uniform gesehen, doch sein Erstaunen ist nur für einen winzigen Moment in seiner Miene zu erkennen, dann ignoriert er den merkwürdigen Aufzug und wünscht einen guten Appetit, will gerade gehen, als der alte Mann ihn bittet, sich zu setzen und ihm Gesellschaft zu leisten.

    Verwundert nimmt George auf der Kante des Sessels gegenüber Platz und hört sich die Geschichte des alten Mannes an, die er noch nicht kennt. Bisher wußte er nur, daß er vor dreißig Jahren aus Moskau geflohen war, daß ein deutscher Gönner ihm geholfen hat, sich in London eine Existenz aufzubauen und daß er in seiner Freizeit gerne Fagott spielt. Von der Zeit in Bremen, dem Kostüm, den Jahren als Bettler wußte er bisher nichts. Staunend lauscht er und beginnt zu begreifen, was er bisher nie verstanden hatte, was den Mann ausmacht und warum sie jetzt hier sind, in Italien, in Meran.
    »Haben Sie den Weg zum evangelischen Friedhof ausfindig gemacht?« fragt der alte Mann schließlich auf Englisch.
    »Yes, I did, Sir. It’s not far from here.«
    Der alte Mann ist beruhigt. Man wird gleich nach dem Frühstück aufbrechen. Er möchte die Ruhe des frühen Morgens ausnutzen. Und danach wird man die Rückreise beginnen. Jetzt, da er weiß, daß er Heinrich Bockelmann nicht mehr treffen kann, hält ihn nichts mehr hier.
    Der evangelische Friedhof ist menschenleer. Leichter Nieselregen verhüllt die Konturen der Stadt. Die Bäume bieten dem alten Mann etwas Schutz. Nur manchmal fallen schwere Tropfen von den Blättern.
    Der Grabstein ist schlicht. Er verrät nichts über den Mann, der hier liegt, über das, was ihn ausgemacht hat, was er im Leben geleistet hat, was ihm wichtig war. Und nichts über die Frau, deren Name auf einer zweiten Platte, links neben Heinrichs steht: Margarete. Es ist ein Gemeinschaftsgrab. Offenbar seine zweite Ehefrau. Sie ist knapp drei Jahre nach Heinrich gestorben. Das Grab ist leicht verwildert. Keine frischen Blumen, keine Kerze, aber es ist nicht ungepflegt.
    Der alte Mann zögert. Soll er wirklich spielen? Hier, auf einem Friedhof, morgens um halb sieben Uhr? Sein Vorhaben erscheint ihm plötzlich beinahe aufdringlich. Soll er die Ruhe stören, hier, an diesem heiligen Ort? »Ich würde

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